Reinhard Sigle ist überzeugt: Kunst muss für jeden zugänglich und verständlich sein. Fotos: Zelenjuk Foto: Schwarzwälder Bote

Interview: Deißlinger Künstler Reinhard Sigle spricht über Herausforderungen,                        Inspiration und Motivation

Deißlingen. In der Kunstszene ist Reinhard Sigle aus Deißlingen kein Unbekannter. Mit seinen Werken eckt er oft an; man wird das Gefühl nicht los, dass er geradezu unbequem und herausfordernd sein will. Im Interview verrät er, was ihn inspiriert, was ihn ärgert und warum er meint, ein guter Kunstlehrer gewesen zu sein.

Herr Sigle, Sie sind Bildhauer, Installationskünstler und Kunstpädagoge. So steht es auf jeden Fall auf Wikipedia. Ganz ehrlich: Sind Sie nicht ein bisschen stolz darauf, einen eigenen Beitrag auf Wikipedia zu haben?

Ich kann ja nichts dafür. Nein, stolz bin ich darauf nicht.

Aber Sie haben mittlerweile Ihre eigene, unverwechselbare künstlerische Handschrift entwickelt.

Ja, schon. Ich arbeite viel mit Abfallmaterialien. Ich habe über zehn Jahre in der Gießerei gearbeitet. Diese Güsse sind für die Ewigkeit. Ich wollte aber nichts für die Ewigkeit. Ich arbeite gern mit Brennholz, mit Abfallholz. Das ist ein armes Material, das man immer zur Verfügung hat. Das lässt sich gut verarbeiten. Aber ich habe auch Installationen aus Dachrinnen gemacht, zum Beispiel in Neufra an der Starzel.

Warum machen Sie überhaupt Kunst?

Ich kann ja gar nichts anderes. Ich wusste seit der zehnten Klasse Gymnasium, dass ich das machen will. Man kann mit Kunst Dinge tun, die andere nicht können. Man kann Festgefahrenes auf den Kopf stellen, Strukturen überprüfen, hinterfragen, schütteln wie eine Schneekugel und schauen, was passiert.

Und passiert da was? Haben Sie den Eindruck, dass Ihre Botschaften bei den Betrachtern ankommen?

Hin und wieder schon. Ich habe ja zum Beispiel sehr viel im öffentlichen Raum gemacht. Es ist immer eine Herausforderung. Zum Teil werden die Arbeiten dort auch zerstört. In Sigmaringen habe ich bei der Gartenschau zum Beispiel eine Installation gemacht. Da musste ich zweimal hin zu Reparaturen. Aber man muss präsent sein im öffentlichen Raum. Nur so spricht man Leute an, die man normalerweise nicht kriegt.

Was ist das für ein Gefühl, wenn Ihre Arbeiten zerstört werden?

Das trifft einen schon in der Seele.

Sie geben aber trotzdem nicht auf?

Auf keinen Fall. Auch wenn manchen meine Arbeiten zu sperrig sind: Ich lege weiterhin den Finger in die Wunde. Das sehe ich als meine Aufgabe. Wobei ich auch ganz andere Werke habe. Es ist ja nicht alles moralisierend. Man muss auch über sich selbst lachen können.

Ist das Entstehen von Kunstwerken manchmal auch ein schmerzhafter und schwieriger Prozess?

Ja, das gibt’s. Manchmal muss man sich neu motivieren. Vor allem nach großen Ereignissen, wo man wirklich alles gegeben hat, ist es oft so, dass man ein paar Wochen gar nichts macht. Und es gibt auch Dinge, die lässt man sein.

Was ist Ihre Inspirationsquelle? Wo kommen Ihre Ideen her?

Kunst passiert in der Zeit. Als Künstler setze ich mich mit dem auseinander, was aktuell passiert. Und wenn was passiert, dann kann ich nicht so tun, als wäre nichts und schöne Bilder malen. Ja, manches muss man einfach machen.

Können Sie einen besonderen Höhepunkt in Ihrem Schaffen nennen?

Jede Arbeit, die man gut findet, ist ein Höhepunkt. Jede Arbeit, die man fertig hat, ist etwas Besonderes.

Ist Ihnen auch das Vernetzen mit anderen Künstlern wichtig?

Ja. Als Einzelkämpfer hat man es nicht leicht. Im Raum Rottweil gibt es Kollegen, mit denen man sich relativ oft trifft. Man kennt sich, man schätzt sich. Man weiß: Man ist nicht allein.

Sie haben in Stuttgart studiert. Jetzt wohnen und schaffen Sie in Deißlingen. Sind sie nicht ein bisschen neidisch auf die Künstlerkollegen in der Landeshauptstadt mit ihren Ausstellungen und der ganz großen Kunst?

Ich fühle mich auf dem Land wohler. Wenn ich will, kann ich die Ausstellungen ja besuchen. Aber sonst? Ich genieße die Landschaft. Morgens laufe ich immer eine Stunde mit den Hund. Es gibt nichts Schöneres als das Eschachtal.

Sie sind zweifelsohne Vollblutkünstler. Sind Sie auch "Vollzeitkünstler"?

Mittlerweile ja. Ich war 34 Jahre Kunstlehrer, 19 davon am Leibniz-Gymnasium in Rottweil. Am 10. Juli 2018 habe ich meine letzte Stunde gegeben.

Vermissen Sie es, im Klassenraum zu stehen?

Die Schule fehlt mir nicht, aber die Schüler und manche Kollegen schon. Und mein Lieblingshausmeister. Ich finde, es liegt immer am Lehrer selbst, die Schüler zu begeistern. Es bringt nichts, wenn es im Unterricht langweilig ist. Ich war ja selbst ein ganz übler Schüler. Das ist mir als Lehrer zugute gekommen.

Wie sehen Sie das, ist das Interesse an Kunst in der Bevölkerung heute noch da?

Das Interesse wird weniger. Mittlerweile ist zum Beispiel auch Kunst am Bau kein Thema mehr. 2002 haben wir ein Bildhauer-Symposium hier in Deißlingen durchgeführt. Wir konnten fünf Kollegen einladen, und die Zeugnisse stehen heute noch. Ich weiß nicht, ob das heute noch so möglich wäre.

Was sind die Gründe dafür?

Wahrscheinlich nimmt man sich selber zu wichtig. Die ganzen medialen Einflüsse, das Internet, es ist einfach zu viel. Und ich überlege mir, ob das Desinteresse an Kunst nicht am Versagen der Kunstlehrer liegt. Ich finde, Lehrer müssen auch selbst Kunst machen. Es braucht viel mehr Praxis und weniger Theorie. Ich war zeit meiner Schulzeit auch künstlerisch tätig. Das hat den Unterricht befruchtet – und umgekehrt.

Wie kann man dieses verschwindende Interesse wieder wecken?

Über Aktionen und Performances. Man muss irgendwo stehen und irgendwas nicht Normales machen. Dafür brauchen Sie den öffentlichen Raum. Das hat die Kunst eigentlich schon immer für sich benutzt.

Als Betrachter hat man manchmal das Gefühl, Kunst ist nur etwas für die Elite. Ist es so?

Nein, auf keinen Fall. Kunst muss für jeden zugänglich sein. Ich muss als Künstler nichts erklären. Der Betrachter muss natürlich eine gewisse Neugierde mitbringen. Aber er muss das Kunstwerk auch nicht unbedingt schön finden. Mit offenen Augen durch die Welt gehen – das ist das Wichtigste. Diese Abgestumpftheit, die es heute zum Teil gibt, die ist nicht gut.

Sie sagen, es war ein Traum von Ihnen, Künstler zu werden. Sind Sie von der Realität nicht enttäuscht?

Nein, ich kann mich wirklich nicht beklagen. Auch im Studium hatten wir die große Freiheit. Es war fast der Bauhaus-Gedanke spürbar. Mit den Professoren war das ein Geben und Nehmen. Wahrscheinlich würde ich es wieder machen.

Oder alternativ ...?

Nach Frankreich gehen, Wein anbauen und was Gutes daraus machen.

 Die Fragen stellte Tatsiana Zelenjuk