Chefarzt Boris Nohé Foto: Maier

Boris Nohé ist Chefarzt im Zollernalb-Klinikum. Im Interview beschreibt er die aktuelle Corona-Situation – und spricht auch über Patienten-Schicksale, die ihn besonders berührt haben.

Zollernalbkreis - Im Zollernalb-Klinikum ist die Corona-Lage angespannt. Immer noch. Chefarzt Boris Nohé, Leiter des Zentrums für Anästhesie, Intensivmedizin, Notfallmedizin und Schmerztherapie, spricht über die derzeitige Situation, über Verschwörungstheorien und Impfpflicht.

Herr Nohé, Sie erleben die vierte Corona-Welle täglich im Zollernalb-Klinikum. Wie beurteilen Sie die Lage?

Die derzeitige Situation ist schlimmer als in den ersten Wellen, sogar schlimmer als während der ersten Welle. Damals mussten wir nur vereinzelt Patienten aus dem Zollernalbkreis verlegen, weil sie an die ECMO, also die künstliche Lunge, mussten, die das Blut außerhalb des Körpers mit Sauerstoff befüllt. Seit Ende November hatten wir solche Verlegungen auch aus Kapazitätsgründen mehrfach pro Woche. Jetzt in der vierten Welle kommen viele – auch jüngere Corona-Patienten – in einem deutlich schlechteren Zustand ins Krankenhaus: Sie warten zu lange zuhause darauf, dass sich ihr Zustand möglicherweise wieder bessert. Dazu kommt, dass die Mannschaft im Krankenhaus nach mittlerweile fast zwei Corona-Jahren ausgelaugt ist.

Die Toten der vierten Welle sind jünger als die der ersten Wellen. Welcher Fall ist Ihnen besonders nahe gegangen?

Ich denke an einen 55-Jährigen, bei dem die Impfung wohl wegen einer Autoimmunkrankheit nicht gewirkt hat. Kurz vor dem Booster hat er sich infiziert. Und ist an Covid-19 verstorben. Hätte es um ihn herum weniger Infektionen gegeben, wäre er noch am Leben. Ich erinnere mich an Familienverbände, die mehrere Angehörige verloren haben. An eine erst 18-Jährige, die nach ihrer Corona-Infektion ein fulminantes Multiorganversagen erlitt. Wir haben uns das Lungengewebe angeschaut – da war nichts mehr. Wenige Stunden nach der Aufnahme mussten wir sie nach Tübingen verlegen, dort kam sie an die künstliche Lunge. Und ich denke an den Fall einer ärztlichen Kollegin: Deren Partner ist in der ersten Welle im Alter von 40 Jahren an Covid-19 verstorben. Genau ein Jahr nach seinem Tod hat sie sich das Leben genommen.

Die Tode verlaufen oft sehr einsam. Wie läuft das bei Ihnen im Klinikum ab?

In der ersten Welle galten ganz harte Besuchsregeln, die wir selbst als unmenschlich empfunden haben. Unter strengen Vorsichtsmaßnahmen haben wir deshalb alles möglich gemacht, was ging. Nicht erst zum Todeszeitpunkt, sondern schon wenn es ernst wurde. Und natürlich auch in den vielen Tagen nach dem Aufwachen aus dem künstlichen Koma. Dennoch müssen die Menschen viel Einsamkeit ertragen, zum Beispiel in der Stunde vor der Intubation, also dem Moment, wo das künstliche Koma beginnt. In dieser kritischen Situation muss schnell gehandelt werden, weil die Patienten starke Luftnot haben. Die Einsamkeit in diesem Moment muss schlimm sein. Wenn ich als Patient weiß, ich bin so krank, dass die Hälfte der Intubierten nicht überlebt und ihre Familie nicht mehr wiedersehen wird. Dann bekomme ich die Medikamente, schlafe ein, und alles andere ist Schicksal. Das kann bei Corona ganz plötzlich der Fall sein, die Krankheit ist unberechenbar. Oft bleibt keine Zeit, vor diesem Schritt die Familie noch einmal zu versammeln.

Im Vergleich zum vergangenen Jahr gibt es weniger Intensivbetten. Verschwörungstheoretiker wollen damit belegen, dass die Kapazität der Intensivbetten ein hausgemachtes Problem sei. Wie ordnen Sie den Mangel an Pflegekräften und den Bettenabbau ein?

Im Bezug auf das Zollernalb-Klinikum ist es Fakt, dass wir keine Betten abgebaut haben. Ganz im Gegenteil. Vor der Pandemie hatten wir 14 Intensivbetten mit Beatmungsmöglichkeit, zeitweise hatten wir auf 28 erhöht – also die Anzahl verdoppelt. Zu Jahresbeginn 2021 waren es 26. Aktuell sind es je zwölf Intensivbetten in Balingen und Ebingen – also zehn mehr als vor der Pandemie.

Und generell in Deutschland?

Das ist ein additiver Effekt: Überall wurden Intensivbetten aufgrund von Corona aufgebaut. Es war aber klar, dass diese Zahl nicht dauerhaft zu halten ist. Die Belastung der Pflegekräfte ist dafür zu hoch. Kündigungen und Krankheit spielen natürlich auch eine Rolle. Zur Wahrheit gehört aber auch: Das letzte Intensivbett wird niemals belegt sein. Wer intensiv versorgt werden muss, wird versorgt – zur Not wird er eben verlegt. Herverlegen, wegverlegen – für die Krankenhäuser ist dieses Jonglieren traurige Routine geworden.

Prämien für mit Corona-Patienten belegte Betten sollen – so Verschwörungstheorien – ein besonderer Anreiz für Kliniken sein. Was entgegnen Sie als Experte?

Lassen Sie mich das ganz deutlich klarstellen: Für Kliniken besteht aus finanzieller Sicht absolut kein Anreiz, Corona-Patienten aufzunehmen. Geld verdient man mit anderen Dingen, vor allem mit lukrativen Operationen. Mir ist keine Klinik bekannt, die an der Corona-Versorgung teilgenommen hat und dadurch nennenswert Geld verdient hat. Im Gegenteil: Alle, die viel zur Bewältigung der Pandemie geleistet haben, wurden mit Millionen-Defiziten bestraft.

Einige wenige in unserer Gesellschaft wollen sich nicht impfen lassen, weil sie fehlende Langzeitstudien zu Nebenwirkungen beklagen.

Ich kann nur klarstellen, was viele meiner Kollegen und Experten schon oft auch gesagt haben: Bei Impfungen gibt es keine Langzeitnebenwirkungen, also Nebenwirkungen, die erst nach langer Zeit auftreten. Wenn Nebenwirkungen auftreten, dann schnell. Möglicherweise gibt es verspätet bemerkte Symptome, das ist bei den Corona-Impfstoffen aber sehr unwahrscheinlich: Die Vakzine wurden mittlerweile milliardenfach verabreicht. Kein Impfstoff ist jemals so gut untersucht und überwacht worden. Auch jene nicht, die sich Urlauber verabreichen lassen, um in exotische Länder fliegen zu können – und die oftmals vor Risiken schützen, die sehr unwahrscheinlich sind. Die Gefahr, an Covid zu erkranken, ist dagegen sehr real – und deutlich höher als das Risiko der Impfung.

Wie stehen Sie zur Impfpflicht – der allgemeinen sowie jener für Menschen in medizinischen und Pflegeberufen?

Wir haben die Impflicht als Gesellschaft wohl unvermeidlich gemacht. Wir hatten die Möglichkeit, ohne wegzukommen – aber dafür haben sich zu wenige impfen lassen. Nicht nur der Einzelne, die Gesellschaft insgesamt muss ausreichend geschützt sein.

Wie verteilen sich Ungeimpfte und Geimpfte unter den Corona-Patienten im Zollernalb-Klinikum?

Aktuell sind 90 Prozent der Intensivpatienten nicht geimpft. Das ist frustrierend, vor allem ist es aus Sicht der Betroffenen unnötig: Mit Impfung hätten viele den schweren Verlauf wohl vermeiden können. Wir hatten auch Phasen, in denen 30 Prozent der Intensivpatienten geimpft waren – dabei handelte es sich aber oft um Menschen, deren Immunsystem durch Medikamente heruntergefahren war und die sich das Virus eingefangen haben, als der Schutz der Impfung schon nachgelassen hatte.

Erleben Sie bei ungeimpften Patienten auch Trotz und Reue?

Trotz erleben wir bei ganz wenigen Patienten, aber es kommt vor. Eine nicht geimpfte Frau hat nach der künstlichen Beatmung etwa betont, dass sie sich jetzt auch nicht impfen lassen wolle. In einem anderen Fall, hat ein Patient bis zu seinem letzten Atemzug geleugnet, überhaupt an Corona erkrankt zu sein. Reue wird häufiger geäußert, wenn es den Patienten wieder besser geht. In der kritischen Phase sprechen die Betroffenen nicht darüber, sie haben viel zu sehr Angst vor ihrem Krankheitsschicksal. Und sie sind mit etwas ganz anderem beschäftigt: überhaupt noch zu atmen.

Konnten Sie schon Impfgegner auf Ihrer Station überzeugen?

Nein, ich glaube noch nicht. Auch das ist frustrierend. Die Denkweisen sind dafür viel zu festgefahren. Nur wenige kommen zur Einsicht, dass die Impfung möglicherweise die bessere Option gewesen wäre – und weiterhin ist.

Bei Corona-Leugnern braucht es keine medizinische Behandlung: Solche Sätze sind in den sozialen Netzwerken zu lesen. Können Sie diese Reaktion als Arzt nachvollziehen?

Nein, kann ich nicht. Ich kenne auch keinen Kollegen, der so handeln oder auch nur in Erwägung ziehen würde. Wir sind Mediziner, wir behandeln Menschen, weil es notwendig ist – unabhängig davon, warum jemand behandelt werden muss. In sozialen Netzwerken ist so eine Meinung schnell dahergesagt. Die Konsequenzen daraus würde aber wohl niemand ziehen.

In einigen Kliniken gibt es die Tendenz, dass Pflegekräfte an ihre Grenzen kommen, frustriert sind, weil ungeimpfte Patienten tendenziell schwieriger sind, alles hinterfragen und kritisieren. Gibt es diese Tendenz im Zollernalb-Klinikum auch?

Eines vorweg: Pflegekräfte, Mediziner, das ganze Team macht seit fast zwei Jahren den Unterschied für Menschen in unserer Region – und sie machen das mit einer unglaublichen Kraft weiter. Diese andauernde Höchstleistung kann man nicht hoch genug bewerten. Ich selbst weiß manchmal gar nicht, wie ich meinen Teams auf den beiden Intensivstationen in angemessener Weise meinen Respekt entgegenbringen soll. Daher frustriert es, dass die Impfquote im Zollernalbkreis und landesweit weiterhin unzureichend ist – und wir alle deshalb aus dieser Krisensituation nicht herauskommen.

Und hinterfragen ungeimpfte Patienten und deren Angehörige häufiger die Behandlung?

Ja. Teilweise müssen wir stundenlang diskutieren, um von – aus unserer Sicht – überlebensnotwendigen Behandlungen zu überzeugen. Etwa wenn es um die künstliche Beatmung geht. Die Angst vor diesem Schritt verstehe ich. Wenn ein Patient an diesem Punkt, so schwer erkrankt ist, dass er den Schlauch braucht, liegt die Überlebenschance bei nur noch 50 Prozent. Auf der anderen Seite sinkt die Überlebenschance mit jeder Stunde, durch die die Behandlung hinausgezögert wird.

Sie selbst sind seit bald zwei Jahren täglich mit Corona-Patienten in Kontakt – und Sie haben sich noch nicht dem Virus infiziert. Wie haben Sie das gemacht?

Na, es ist ganz einfach: Wir haben es mit einem Virus zu tun, das von Mensch zu Mensch übertragen wird, sehr krank machen und töten kann. Also muss ich mich im Kontakt mit anderen Menschen schützen – Maske tragen, am besten FFP2. Und jeder sollte die Zahl der Kontakte zu anderen Menschen auf ein ihm mögliches Maß begrenzen. Wo Kontakte stattfinden, sollte man sich zudem vorab testen, um Risiken auszuschließen. Und natürlich impfen – um im Fall einer Infektion vor einer schweren Erkrankung geschützt zu sein.