Christian Rauch, Chef der Regionaldirektion Baden-Württemberg der Bundesagentur für Arbeit, sorgt sich um künftige Fachkräfte. Foto: picture alliance/dpa/Tom Weller

Deutlich weniger Jugendliche in Baden-Württemberg bewerben sich auf einen Ausbildungsplatz – obwohl die Zahl der Schulabgänger leicht steigt. Der Chef der Arbeitsagentur Baden-Württemberg, Christian Rauch, sieht das mit Sorge.

Stuttgart - Das neue Ausbildungsjahr startet traditionell im September. Schon jetzt sorgt sich Christian Rauch um die künftigen Fachkräfte. Die Diskrepanz zwischen Bewerbern und Schulabgängern ist groß, sagt der Chef der Regionaldirektion Baden-Württemberg der Bundesagentur für Arbeit. Von vielen Jugendlichen wisse man nicht, wo sie seien.

 

Herr Rauch, auch wenn das neue Ausbildungsjahr erst im September beginnt – treibt Sie das Thema bereits um?

Ja. Ich sehe Risiken, dass sich auch in diesem Jahr Jugendliche vom Ausbildungsmarkt zurückziehen. Aber Sorgen bereiten mir eher die dann folgenden Jahre.

Das müssen Sie erklären.

Zunächst die Zahlen: Bis jetzt wurden uns zehn Prozent weniger Ausbildungsstellen als im Vorjahr gemeldet. Der Rückgang ist ähnlich hoch wie vor einem Jahr. Damit liegen uns knapp 60 000 Ausbildungsplätze vor, die zu besetzen sind. Gleichzeitig ist die Zahl der Bewerberinnen und Bewerber aber um 18 Prozent auf jetzt 38 500 gesunken – obwohl die Zahl der Schulabgänger leicht steigt.

Wie passt das zusammen?

Die Zahl der Jugendlichen, die sich für eine Ausbildung interessieren, ist deutlich niedriger, als man das angesichts der Schulabgängerzahlen erwarten könnte. Das war auch 2020 so. In Baden-Württemberg gab es ein paar Tausend junge Leute, die weder eine Berufsausbildung begonnen noch an eine Uni oder an eine weiterführende schulische Einrichtung gewechselt sind. Und wenn man jetzt die Entwicklung sieht, ist zu vermuten, dass sich dieses Jahr noch mehr junge Menschen so entscheiden.

Wo stecken diese Jugendlichen?

Wir wissen es nicht genau.

Aber Sie haben eine Vermutung?

Ja, aber mehr auch nicht. Da Auslandsaufenthalte auch kaum möglich sind, gehen wir davon aus, dass sich der eine oder andere mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält. Einige andere werden sicherlich auch von Mama und Papa finanziert – sage ich mal flapsig. Sie sind also zu Hause.

Weiß man, um welche Gruppe es sich handelt?

Das dürften vor allem Realschüler und Abiturienten sein. Nach dem Geschlecht gibt es keine signifikanten Unterschiede. Und der Rückzug ist bei den Deutschen etwas stärker als bei den Migranten.

Abiturienten?

Der eine oder andere Abiturient hat uns gesagt, dass er nach dem Homeschooling jetzt nicht komplett digital studieren will. Das normale Hochschulleben findet ja coronabedingt nicht statt.

Das Problem ist . . .

. . . dass wir dann zum Ausbildungsjahr 2022 ein zusätzliches Potenzial auf der Bewerberseite sehen werden. Aber weder die Ausbildungsbetriebe noch die Unis werden dann den Andrang schultern können.

Wann ist der Peak?

Ich hoffe, dass die jungen Menschen Ende 2021 wieder in eine normale Berufsorientierung einsteigen können. Und im nächsten Jahr sollten Praktika in Unternehmen wieder möglich sein. Dann werden auch die jetzt „vermissten“ jungen Menschen wieder sichtbar werden.

Im Südwesten sind die Bewerberzahlen bis jetzt im Vergleich zu anderen Bundesländern überdurchschnittlich stark zurückgegangen. Warum?

Ich sehe keine strukturellen Gründe. Es ist vielmehr der Corona-Effekt. Entscheidend ist, wie lange und wie intensiv der Zugang zu den Schulen möglich war. Andere Bundesländer hatten länger geöffnet.

In welchen Branchen gibt es die größten Einbrüche an Ausbildungsplätzen?

Der stärkste Einbruch ist im Bereich Körperpflege, der stark vom Lockdown betroffen ist. Auch im Bereich Feinwerk- und Werkzeugtechnik ist die Zahl der Ausbildungsstellen deutlich rückläufig. Das hängt mit dem Maschinenbau zusammen, der ja schon 2019 – also vor Corona – konjunkturell gebeutelt war. An dritter Stelle sind die Versicherungs- und Finanzdienstleistungen – das hat mit Transformation und Digitalisierung zu tun. Die ersten Arbeitgeber reagieren auf die großen technologischen Trends.

Etliche Zulieferer verlagern ihre Produktion nach Osteuropa. Ist das auf dem Ausbildungsmarkt angekommen?

Das ist schwer aus der Statistik zu interpretieren. Schließlich sind Zulieferer auch von weltweiten Überkapazitäten am Automarkt betroffen. Und dann kommen die Corona-Effekte. Doch es gibt Indizien.

Und die wären?

Wenn man sich verschiedene Berufe anschaut: Für Mechatroniker und Automatisierungsfachkräfte werden 16,4 Prozent weniger Ausbildungsplätze angeboten – durchschnittlich liegt der Rückgang ja bei zehn Prozent. Und im gesamten Verarbeitenden Gewerbe gibt es einen Rückgang von 14,6 Prozent. In diesen Zahlen könnten sich Vorbereitungen auf E-Mobilität und Digitalisierung widerspiegeln, also Technologien, wo Metallberufe weniger gebraucht werden.

Die Ausbildungszahlen könnten aber auch sinken, weil wieder weniger Betriebe ausbilden?

Dazu gibt es noch keine belastbaren Zahlen. Aber es zeichnet sich ab, dass viele Betriebe ihre Ausbildungsstellen deutlich später besetzen als früher. Diese Entwicklung haben wir bereits im vergangenen Jahr gesehen. Das fünfte Quartal – also die Zeit von September bis Dezember – hat 2020 schon eine hohe Relevanz gehabt. Das dürfte sich 2021 wiederholen.

Welche Bedeutung haben die öffentlichen Hilfen, mit denen Betriebe bei der Ausbildung unterstützt werden?

In Baden-Württemberg haben bisher 3929 Betriebe Prämien des Bundesprogramms „Ausbildungsplätze sichern“ beantragt. Bei 2781 Betrieben wurden diese bereits ausgezahlt. Welchen Einfluss diese Hilfen auf die Zahl der gemeldeten Ausbildungsstellen gehabt haben, ist unklar. Wir glauben nicht, dass die Hilfen das Ausbildungsangebot massiv erhöht haben – sondern eher stabilisiert.

Wurden mehr Ausbildungsverträge wegen Corona wieder aufgelöst?

Eine aktuelle Statistik dazu gibt es nicht. Aber wir haben eine Art Frühwarnsystem. Es gibt keine Hinweise, dass es zu überdurchschnittlich vielen Ausbildungsabbrüchen gekommen ist – weder von den Betrieben noch von jungen Menschen.

Gibt es Azubis in Kurzarbeit?

Das sind nur wenige. Kurzarbeit bei Azubis ist eher die Ausnahme.

Welche Tipps haben Sie für coronagestresste Jugendliche, die 2021 die Schule abschließen?

Ganz wichtig: Abwarten ist keine schlaue Idee. Denn die Konkurrenzsituation nimmt in den nächsten Jahren nur zu. Und dann empfehle ich den Jugendlichen, auf der Internetseite der Bundesagentur den kostenlosen Test Check-U. Der Jugendliche gewinnt dort Erkenntnisse zu seinen Neigungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Er bekommt auch Vorschläge zu Berufen oder Studienfächern. Er kann den Test selbst machen, aber auch Freunde können den Test für ihn machen. Da kann man richtige Spiele draus entwickeln.

Haben Sie noch einen Tipp?

Neu eingerichtet wurde von der Agentur für Arbeit die Website ,Ausbildung klarmachen’, wo man sich einen visuellen Eindruck verschaffen kann, was einen in konkreten Berufen erwartet. Und dann sind ja unsere Berufsberater telefonisch und digital erreichbar. Unsere Erfahrung zeigt, dass die Jugendlichen zwar online-affin sind. Bei Lebensfragen wie der Berufswahl sind sie aber konservativ und suchen den persönlichen Kontakt.