Reinhold Boschki referierte über die Erinnerungskultur und ihre Bedeutung für die Gegenwart sowie über zunehmenden Antisemitismus Foto: Roller Foto: Schwarzwälder Bote

Geschichte: Projekt "Papierblatt" verbindet Digitalisierung und Holocaust-Gedenken / Präsentation in Calw

Millionenschwere Digitalisierungsprojekte der Landesregierung gerieten jüngst ins Stocken, im Casino der Sparkasse Calw stellte Schuldekan Thorsten Trautwein derweil das Projekt "Papierblatt" vor.

Nordschwarzwald. "Papierblatt" ist ein Videoarchiv mit Lebensberichten von jüdischen Holocaust-Überlebenden, das zunächst durch ehrenamtliches Engagement initiiert und dann von gemeinnützigen Werken und der Kirche weiterentwickelt wurde.

Das Hilfswerk "Zedakah" in Bad Liebenzell-Maisenbach hat 2013 damit begonnen, in Israel das Schicksal Holocaust-Überlebender mit Videointerviews zu dokumentieren. Auch zahlreiche Vorträge wurden gefilmt. Mittlerweile – 73 Jahre nach Kriegsende – sind diese Menschen entweder sehr alt, oder sie waren noch kleine Kinder, als in Deutschland die jüdische Bevölkerung der Ausgrenzung und schließlich der Vernichtung preisgegeben wurde. Seit den 1960er-Jahren betreut "Zedakah" Holocaust-Überlebende im Norden Israels.

Die Erinnerung an diese dunkle Zeit will das Projekt "Papierblatt" wachhalten, Schuldekan Trautwein hat es deshalb von Anfang unterstützt, um es als digitale Bildungsplattform zu nutzen. Dabei half er gemeinsam mit Pfarrern und Religionspädagogen, das gesammelte Videomaterial für den schulischen Unterricht didaktisch zugänglich zu machen.

Nun wurde es in Anwesenheit von Lehrern, Pfarrern, Diakonissen, politischen und gesellschaftlichen Verantwortungsträgern sowie weiteren Interessierten der Öffentlichkeit präsentiert, worüber sich Gastgeber Hans Neuweiler, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Sparkasse Pforzheim Calw, sehr erfreut zeigte.

"Papierblatt" ist nach dem Nachnamen eines Überlebenden benannt – in Doppelbedeutung mit dem Blatt Papier als Erinnerungsträger – und enthält mittlerweile etwa 25 Interviews und Vorträge mit bis zu zweieinhalb Stunden Länge. Ergänzt wurden diese Interviews durch didaktische Hinweise und ausgearbeiteten Unterrichtsentwürfe für Lehrkräfte sowie einer ausgeklügelten Video-Suchfunktion. Zudem ist die Internetpräsenz so programmiert, dass sie auch auf Tablets und Mobiltelefonen sehr einfach verwendet werden kann. Es ist kein Zugangcode nötig und auch Werbung findet sich nicht – das Projekt ist unter der Webadresse www.papierblatt.de für jedermann frei nutzbar. "Papierblatt" wird durch Spenden finanziert, für die Weiterentwicklung seien nun zunächst weitere Mittel erforderlich, so Thorsten Trautwein.

Andrew Hilkowitz ist Dialogbeauftragter der jüdischen Gemeinde in Pforzheim und Vorsitzender eines Vereins, der diejenigen Menschen unterstützt, die als Kinder den Holocaust überlebt haben. An seiner eigenen Lebensgeschichte machte er in seinem Grußwort deutlich, dass er trotz Flucht nach England alles andere als eine normale Kindheit hatte, mehrmals wurde sein Leben völlig entwurzelt und umgekrempelt.

Auch der Hauptreferent des Abends. Prof. Dr. Reinhold Boschki von der Universität Tübingen machte die Ursprünge seiner akademischen Laufbahn an biografischen Aspekten fest: Der im Schwarzwald Aufgewachsene erfuhr von den Schattenseiten seines eigenen Wohnorts und dem Schicksal des Juden Paul Niedermann, der lange nicht über die traumatischen Ereignisse berichten konnte, später aber als Zeuge gegen Klaus Barbie, den sogenannten "Schlächter von Lyon" aussagte und in der Folge immer wieder Vorträge hielt.

Antisemitismus sei in Deutschland ein historisches, aber auch ein aktuelles Problem, so Professor Boschki. Auch der Gründer der Uni des katholischen Theologen war ein ausgemachter Antisemit: der berühmte württembergische Herzog Eberhard im Bart (1445–1496). Und in den letzten Jahren sei eine drastische Zunahme judenfeindlicher Tendenzen zu beobachten, so sei der Anteil antisemitischer Webseiten um 40 Prozent gestiegen und Antisemitismus in allen gesellschaftlichen Schichten zu beobachten.

Erinnerung hilft Menschenrechte zu schützen

Als Pädagoge könne er angesichts dieser Zahlen dennoch nicht ohne Hoffnung leben. Holocaust-Bildung wie durch das "Papierblatt"-Projekt sei wichtig, wenn die Zeitzeugen nun langsam durch den größer werdenden zeitlichen Abstand zum Geschehen verstummen.

Erinnerung helfe, die Menschenrechte auch in der Gegenwart und in Zukunft zu schützen. Am Ende zitierte er den 2016 verstorbenen Holocaust-Überlebenden Elie Wiesel, mit dessen Lebenswerk er sich beschäftigt: "Erinnerung ist ein anderes Wort für Hoffnung".

Während Zeno Danner, Erster Landesbeamter des Landkreises Calw, sowie Stefan Hermann vom Pädagogisch-theologischen Zentrum der Landeskirche in ihren Grußworten deutliche Worte in Richtung des Rechtspopulismus fanden, machte der AfD-Landtagsabgeordnete Klaus Dürr durch seine Anwesenheit deutlich, dass es in seiner Partei offensichtlich auch ein Gegengewicht zu nationalistischen und antisemitischen Tendenzen gibt. So gab es dann auch beim abschließenden Stehimbiss noch angeregte und teilweise kontroverse Diskussionen.

Musikalisch begleitet wurde der Abend von Schülern des Musik-Neigungskurses der beiden Calwer Gymnasien.