Die Gruppe um die Angehörigen (in der Mitte) vor dem Maierhaus des Hof Dicke. Foto: Menzler Foto: Schwarzwälder Bote

Familiengeschichte: Nachfahren von Zwangsarbeiterin besuchen Arbeitsstelle / Neue Einsichten in Vita

Nach einer rührenden Gedenkfeier in Aach für die dort 13 verstorbenen Säuglinge des "Polenkinderheims" konnten Angehörige der ehemaligen Zwangsarbeiterin Nadeschda Romanjuk den Hof Dicke besichtigen. Dort war sie von 1942 bis 1944 Zwangsarbeiterin. An diesem Tag gab es für die Familie ein paar neue Einsichten in die Lebensgeschichte der Frau.

Calw-Stammheim. Auf dem Hof Dicke in Stammheim fanden sich jetzt Angehörige der ehemaligen russischen Zwangsarbeiterin Nadeschda Romanjuk ein. Sie waren zuvor eingeladen gewesen, an einer Gedenkfeier in Dornstetten-Aach teilzuhaben. Die Gedenkfeier wurde auf dem Friedhof in Aach abgehalten. Zu Ehren von 13 verstorbenen Säuglingen in dem damaligen Polenkinderheim in Aach wurde dort eine Gedenkstele von Künstler René Dantes enthüllt.

Mit 18 war sie schon Zwangsarbeiterin

Nach der Gedenkfeier hatten der Sohn Romanjuks, Sergiej Belinski, dessen Frau Eugenia Belinska, die Enkelin Larysa Shopina und deren Mann Igor Shopin die Möglichkeit, den Hof Dicke in Stammheim zu besichtigen. Norbert Weiss vom Arbeitskreis "Lokale Zeitgeschichte Calw" berichtete dabei von ihrer Geschichte.

Romanjuk wurde am 1. Mai 1924 in Stare Poritschja, in der damaligen Sowjetunion geboren. Auf dem Hof Dicke war sie ab dem 22. Mai 1942 Zwangsarbeiterin – also bereits im Alter von 18 Jahren. Anfang des Jahres 1944 wurde Romanjuk schwanger. Zu Beginn wurden Zwangsarbeiterinnen, die während ihres Einsatzes schwanger wurden, zurück in ihre Heimat gebracht.

Doch als sich die Schwangerschaften häuften und als Mittel, der Gefangenschaft und der Arbeit zu entfliehen, gesehen wurden, wurden circa ein Viertel der Schwangerschaften durch eine Zwangsabtreibung beendet. Im Fall der restlichen Schwangeren hatte man beschlossen, diese in eigens dafür eröffnete Stellen für Entbindungen zu bringen.

Kinder der Zwangsarbeiterinnen, die sich äußerlich nicht von Deutschen unterschieden, beziehungsweise ein Elternteil "germanischen Volkstums" hatten, wurden ab Juni 1943 nach der Stillzeit in besondere Pflegeheime gebracht. Dort wurden sie auf "deutsche Weise" erzogen und für eine mögliche Adoption eines deutschen Ehepaars vorzubereiten, liest man auf der Website des Bundesarchivs. Kinder, die nicht als "gutrassig" beurteilt wurden, kamen in "Ausländer-Pflegestätten", in denen sie vorsätzlich unterernährt wurden. Die Sterblichkeitsrate lag zwischen 25 und 50 Prozent, in einigen Fällen sogar bei 90 Prozent – Zehntausende verhungerten auf diese Weise qualvoll, heißt es weiter.

Romanjuk wurde wegen ihrer Schwangerschaft ins Krankenlager nach Großsachsenheim gebracht und gebar dort am 27. September 1944 ihre Tochter Antonia. Ihr Kind wurde als "nicht gutrassig" beurteilt und kam in das im Volksmund "Polenkinderheim" genannte Heim in Dornstetten-Aach.

Dort gab es 40 Plätze für Kinder. Von diesen 40 starben 13 Säuglinge, somit lag die Sterblichkeitsrate in Aach bei 32,5 Prozent. Es ist unklar, wann Antonia in das Kinderlager kam, jedoch starb sie am 9. November 1944 – die Beerdigungskosten von 15 Reichsmark waren von der Mutter zu begleichen.

Romanjuk kam am 26. Oktober 1944 von Hof Dicke zu einem anderen Bauern in Würzbach – Jakob Brommer. Dort blieb sie wahrscheinlich bis zum Ende des Krieges. Nach der Befreiung der Sklaven- und Zwangsarbeiter wurden diese in Lager untergebracht – als "Displaced Persons". Diejenigen, ehemals auf polnischem Staatsgebiet Wohnhaften hatten die Wahl: zurück in ihren ehemaligen Wohnort, in ein anderes Land emigrieren oder in Deutschland bleiben.

Diejenigen, wie auch Romanjuk, die vor dem Krieg in der Sowjetunion wohnten, wurden dorthin zurückgeschickt. Sie wurden, so ist auf der Seite des Bundesarchivs weiterhin zu lesen, in Filtrationslager des Geheimdienstes "NKWD" gebracht, in denen ihre Tätigkeit im Hinblick auf eine Kollaboration mit den Deutschen untersucht wurde. Auch nach deren Entlassung hatten die Zurückgekehrten bis in die 1990er-Jahre mit Diskriminierungen und Missachtung zu kämpfen.

Romanjuk begann ihr Leben zurück in der Heimat und gründete eine Familie. Sie erhielt im Nachhinein zweimal Geld von den Deutschen als Entschädigung – jeweils 1500 Mark.

Von der sowjetischen Seite wurde Romanjuk nie namentlich erwähnt, wie Schwiegertochter Eugenia berichtet. Sie bedankte sich zudem zutiefst bei den Anwesenden: Weiss, Kreisarchivar Martin Frieß, Peter Schäfer, Abteilungsleiter für Landwirtschaft und Naturschutz im Landratsamt Calw, sowie bei der Familie Adams, die den Hof heute betreibt.

Romanjuks Schwiegertochter sprach für alle, als sie ihren Dank aussprach – für die Gedenkfeier in Aach sowie für den Besuch auf dem Hof Dicke und der offenbarten Geschichte. Zum Abschluss führte Michael Adams die Gruppe über seinen Hof, zeigte seine rund 160 Kühe, die Ställe, die Melkanlage, die Biogasanlage. Ein Höhepunkt der Führung war das große Haus, das schon zu Zeiten von Romanjuk auf dem Hof stand.