Jean-Philippe Toussaint Foto: Imago Images/Hans Lucas/Constant Forme-Becherat

Liebe und Politik in Zeiten von Brexit und Naturkatastrophen: Jean-Philippe Toussaints großartiger neuer Roman „Die Gefühle“ .

Stuttgart - Was ist der größtmögliche Gegensatz zu einer amour fou, zu einem Paar, das quer durch Europa bis nach Japan voreinander flieht und sich doch immer wieder findet? Die Bürokratie der EU in Brüssel, vielleicht? Ein entschiedenes Jein dazu.

Nach dem Romanvierteiler „MMMM“ über einen Ich-Erzähler und seine Geliebte Marie, beide gleichermaßen sprunghaft und kapriziös, folgte ein neuer Mehrteiler von Jean-Philippe Toussaint. Der Held ist Jean Detrez, ein Mitarbeiter der Europäischen Kommission, kein großes Licht.

In dem 2020 auf Deutsch erschienenen Roman „Der USB-Stick“ verstrickt er sich in abstruse Machenschaften mit Lobbyisten, hinreißende Slapstick-Szenen in einer öffentlichen Toilette inklusive. Eine Agenten-Persiflage, die unvermittelt endet, als Jeans Vater (er war Europakommissar), stirbt.

Dieser wie auch der neue Roman des 1957 in Brüssel geborenen und vielfach ausgezeichneten Autors sind auch eine Art Lob- und Trauerrede auf die Idee von Europa. Und so setzt sich die Geschichte in „Die Gefühle“ erst einmal fort, mit der Beerdigung des Vaters, mit der Arbeit in Brüssel, mit dem drohenden Brexit und folgenreiche Erinnerungen an einen isländischen Vulkanausbruch.

Lob- und Trauerrede auf Europa

Den etwas antriebslosen Detrez verschlägt es auf einen Zukunftskongress. Hier sind die Teilnehmer vor allem damit beschäftigt sind, sich gegenseitig zu piesacken und in Gruppenarbeit mehr oder minder gruselige gesellschaftspolitische Szenarien für die kommenden Jahrzehnte zu entwerfen.

Der Titel des Romans indes trügt nicht – Gefühle im großen Stil beschäftigen den Helden. Auf dem Kongress bandelt er mit einer Kollegin an, die Affäre endet aber, bevor sie beginnt. In der darauf folgenden Rückschau auf andere Liebesgeschichten schildert der Ich-Erzähler anrührend und witzig auch die erste Nacht mit seiner Frau Diane (von der er sich soeben getrennt hat).

Verführung in der Badewanne

Die nimmt ihn direkt nach dem Kennenlernen nach Hause mit, steigt in die bis an den Rand gefüllten Badewanne und der Held, leicht indigniert, folgt ihr dorthin, sitzt aber erst einmal recht unbehaglich in der überschwappenden Wanne, bevor er Gefallen an diesem ungewöhnlichen Ort eines Dates findet.

Das ist der ironisch feine Humor, den Toussaint jeglichem platten Realismus stets entgegenhält. Seine Figuren geraten in surreal anmutende Situationen, in denen sie nicht allzu gut aussehen, sie agieren überraschend unvernünftig, Geschichten nehmen eigenartige Wendungen. Franz Kafka grüßt aus der Ferne.

Und so kommt es, dass selbst in den grauen Gängen bürokratisch verwinkelter Gebäude dem Helden die Liebe begegnet: „und dann war da ein Blick, ein erneuter Augenkontakt, nichts weiter, einfach, offen, bewusst, offensichtlich, und ohne ein Wort, ohne zu wissen, wie, vereinten sich unsere Hände auf dem Tisch, fanden wir uns Hand in Hand wieder.“

Eine Dame namens Pilar

In rasanten Wortreihen, sich jagenden Halbsätzen erzeugt der Erzähler eine Atemlosigkeit, eine erhitzte Stimmung; die Erotik des Satzbaus, diese Grammatik der Leidenschaft beherrscht Jean-Philippe Toussaint wie kaum ein anderer. Ob Pilar Alcantara, so heißt die Dame, Jean Detrez auch im nächsten Roman Herzrasen bescheren wird? Zu hoffen wäre es.

Info

Buch
Jean-Philippe Toussaint: Die Gefühle. Aus dem Französischen von Joachim Unseld. Frankfurter Verlagsanstalt. 241 Seiten, 22 Euro.