Zwei Mädchen werden am Morgen in der Gemeinde Illerkirchberg niedergestochen. Eine 14-Jährige erliegt ihren Verletzungen. Die Polizei nimmt Bewohner einer Flüchtlingsunterkunft fest.
Tragödien gibt es, die ihren Schrecken und Schmerz wie aus dem Nichts verbreiten. Ohne jede Warnung, ohne vorherigen Konflikt oder erkennbare zwischenmenschliche Bezüge. Ohne irgendeinen Sinn. Zu so einer Tragödie kommt es am Montag in Oberkirchberg, einem Ortsteil der Gemeinde Illerkirchberg im Alb-Donau-Kreis. Ein Mann greift am Morgen zwei Mädchen im Alter von 13 und 14 Jahren auf ihrem Schulweg an und verwundet sie schwer. Die Kinder werden in Krankenhäuser gebracht. Am Nachmittag stirbt die 14-Jährige an ihren Verletzungen.
„Riesige Stichwunde im Bauch“
Der Wahnsinn beginnt im kalten, nebligen Halbdunkel dieses Morgens. Gegen 7.30 Uhr geht ein Alarm beim Polizeipräsidium Ulm ein. Ein Anrufer schildert ein Verbrechen. Sofort beginnt eine gewaltige Einsatzmaschinerie, die aus Kriminalpolizisten, Bewaffneten eines Sondereinsatzkommandos und der Spurensicherung besteht. Der erste Verdacht ist, dass sich an der Grundschule von Oberkirchberg ein Amoklauf abspielt. Das wird sich als Irrtum herausstellen; die Mädchen sind auf ihrem Weg zur Bushaltestelle auf offener Straße attackiert worden. Wie und warum, weiß zunächst niemand.
Am Abend dann machen Polizei und Staatsanwaltschaft Ulm in einer schriftlichen Erklärung zumindest Umrisse des Geschehens öffentlich. Die Mädchen sind demnach niedergestochen worden. Laut Zeugen soll der Angreifer aus einer nahe gelegenen Asylbewerberunterkunft gekommen und nach der Tat wieder dorthinein geflüchtet sei. Bei einer Hausdurchsuchung sind drei Männer aus Eritrea festgenommen worden, einer von ihnen im Alter von 27 Jahren wurde verletzt und unter Bewachung in ein Krankenhaus gebracht. Bei ihm wurde ein Messer gefunden, das die Tatwaffe sein könnte. Er gilt nun als Hauptverdächtiger. Schon Stunden vorher lässt der SWR lässt einen Zeugen zu Wort kommen, der eines der Mädchen mit einer „riesigen Stichwunde im Bauch“ am Boden liegend gesehen haben will. Auch das andere Kind habe eine Stichwunde gehabt, unterhalb der Brust. Die verstorbene 14-Jährige ist laut Polizei „eine Deutsche mit Migrationshintergrund“. Ob sie und der Angreifer sich kannten, ob hier das Motiv für die Bluttat liegt, ist eine der offenen Fragen.
Von heiler Welt kann auch vorher keine Rede sein
Der Bürgermeister von Illerkirchberg weiß selber nichts Genaues. Er heißt Markus Häußler. 2020 ist er als parteiloser Kandidat ins Amt gewählt worden, mit damals gerade 35 Jahren. Er ist am Morgen sofort in seinen Teilort gefahren, wo die Polizei schon Absperrbänder gezogen hatte. „Auch ich durfte nicht bis ganz vorne hin“, sagt er. So konnte er zunächst kein Wort seiner Betroffenheit sagen, niemanden trösten, den Einsatzkräften, die seiner Beobachtung nach „hochprofessionell“ gearbeitet haben, kein Lob aussprechen. Illerkirchberg ist ein ruhiger, sich über mehrere Wohngebiete ziehender Ort ohne echtes Zentrum, gelegen direkt an der Grenze zu Bayern, zwischen den wirtschaftsstarken schwäbischen Städten Ulm im Norden und Biberach im Süden. Die Ortspolitik hat in den vergangenen Jahren viel getan, um zu verhindern, dass die Gemeinde mit ihren knapp 5000 Einwohnern allmählich zur Schlafkolonie herabsinkt, wo Scharen von zugezogenen Berufspendlern abends nur noch müde in die Kissen fallen. Die Gemeinde ist schuldenfrei und hat ihre finanzielle Beinfreiheit genutzt, neben der Grundschule in Oberkirchberg noch eine zweite zu erhalten. Das geht nur, wenn die Familien bleiben und möglichst neue dazukommen. Das hat bis jetzt geklappt: durch die regelhafte Ausweisung von Neubaugebieten, die Ansiedlung von Supermärkten, die Finanzierung einer Musikschule. Die Vereine, vorneweg der Schützenverein, pflegen ihre Nachwuchsarbeit. Von heiler Welt kann trotzdem nicht die Rede sein. Wenn es sie in Illerkirchberg doch einmal gegeben haben sollte, dann ist sie in der Halloween-Nacht des Jahres 2019 kaputtgegangen.
Gemeinde schon 2019 Schauplatz eines schrecklichen Verbrechens
Vier aus dem Irak und Afghanistan stammende Männer zwischen 17 und 26 Jahren hatten im Oktober vor drei Jahren ein 14 Jahre altes Mädchen in einer Flüchtlingsunterkunft mit Betäubungsmitteln wehrlos gemacht und mehrfach vergewaltigt. Das Verbrechen geschah in einem abgelegenen, damals von der Gemeinde genutzten Haus in einem anderen Ortsteil. Das Landgericht Ulm verurteilte die Täter im März 2021 zu Haftstrafen von zwei Jahren und drei beziehungsweise zwei Monaten.
Der Bürgermeister damals hieß Anton Bertele, auch er war parteilos. Er hatte bei einem Treffen nach dem Verbrechen im Gespräch ausführlich geschildert, wie die Stimmung im Ort aufbrauste, wie sich die Internetforen mit Forderungen nach harten Strafen füllten – und wie er selber in Leserbriefen der örtlichen Zeitung unversehens als Hardliner in Flüchtlingsfragen bezichtigt wurde. Zu einer weiteren Amtszeit hatte der zwischen die Lager geratene, vielfach angefeindete Bertele dann keine Lust mehr.
Reflexhafte Reaktionen von der AFD
Reflexhafte Reaktionen auch wieder am Montag: Der migrationspolitische Sprecher der AfD-Fraktion im Landtag, Ruben Rupp, gibt sich entsetzt, schreibt: „Erneut kam es zu einem brutalen Messermord in Illerkirchberg.“ Alles deute „auf einen weiteren Mord eines Asylbewerbers oder sogenannten Flüchtlings hin“.
Bürgermeister Häußler will sich an keiner Vorverurteilung beteiligen, ihm ist die Politik an diesem Nachmittag egal. Gerade hat auch er erfahren, dass das 14-jährige Mädchen nicht gerettet werden konnte. Er sagt: „Ich glaube, ich kann für die ganze Gemeinde sprechen, wenn ich sage, wir stehen alle unter Schock.“ Es gibt keine Handlungsanleitung im Umgang mit dieser Bluttat, keinen Plan, auf den sich zurückgreifen lässt. Für den Abend haben sich fast alle Mitglieder des Gemeinderats von Illerkirchberg miteinander verabredet. Sie wissen zu diesem Zeitpunkt nur, dass sie helfen wollen, wie auch immer. „Wir können da sein, und wir können Ansprechpartner sein“, sagt Häußler. Konkrete Aktionen hat er noch nicht im Kopf, nur das: „Einen Alltag wird es sicher die nächsten Tage nicht geben.“
Nur eine halbwegs positive Nachricht hebt sich bis zum Abend aus dem Dickicht der Vermutungen, Informationen und Halbinformationen, wie ein schwaches Licht aus allumfassender Dunkelheit. Das 13-jährige Mädchen, heißt es seitens der Polizei, sei nach einem ersten Eingriff durch die Ärzte in einem „stabilen Zustand“.