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Andreas Trotzke läuft virtuell mit. Nach 3 Stunden und 5 Minuten am Feuerwehrhaus.

Bisingen - "Der Gegenwind war brutal!" Glücklich sieht er trotzdem aus: Andreas Trotzke beendet nach 3 Stunden und 5 Minuten den London-Marathon am Bisinger Feuerwehrhaus. Wie bitte? Richtig gelesen. Eine Reportage zum ersten virtuellen Welt-Marathon im Zollernalbkreis.

Corona hier, Corona da. In London. In Bisingen. Das Virus unterscheidet nicht – es legt ebenso Weltstädte wie auch den Zollernalbkreis lahm; hindert Profiathleten wie auch ambitionierte Hobbysportler daran, sich wie gewohnt bei Sportevents zu messen. Bis jetzt.

Der London-Marathon macht möglich, was sich nach einer langen Liste von Marathon-Absagen 2020 keiner mehr hätte träumen lassen: Live vor Ort fand am Sonntag tatsächlich wieder ein Wettrennen für die Elite unter strengen Sicherheitsvorkehrungen statt, gleichzeitig konnten ambitionierte Hobbyläufer virtuell am Rennen teilnehmen – coronasicher bei sich vor Ort.

Lauf wird über App aufgezeichnet

Einer der 45 000 Läufer ist Andreas Trotzke. 42,195 Kilometer liegen vor ihm, als er am Feuerwehrhaus in Bisingen auf den Startknopf in seiner offiziellen London-Marathon-Virtual Run-App drückt. "Irgendwie skurril", sagt er und schüttelt lächelnd den Kopf, als er das Handy in seine Selbstverpflegungsjacke steckt.

Wie ist das, 42,195 Kilometer zu rennen ohne Schlachtenbummler, Verpflegungsstationen und andere Läufer, die man jagen oder denen man davonrennen könnte?

"Eigentlich ist bis jetzt alles ziemlich ähnlich wie sonst auch", resümiert der gut gelaunte 37-Jährige und spielt auf seine Rituale jedes Marathonlaufs an: frühes Frühstück, Laufstrategie nochmals durchgehen, warmlaufen, los!

Schwiegermutter statt englisches Hotel

Der einzige Unterschied: Statt englischem Hotelfrühstück gibt es am Sonntagmorgen von der Schwiegermutter am Vortag eingelegte Haferflocken mit viel Obst und Nüssen.

Geplant wurde wie immer, nur nicht allein: "Wie schnell muss ich fahren? 20 Kilometer pro Stunde?", fragt die Schwiegermutter pflichtbewusst und etwas nervös, denn sie hat heute eine wichtige Aufgabe als Geschwindgkeitsmacherin auf dem Fahrrad: Wasser reichen, Tempo halten und nebenher motivierende Schlachtrufe schreien, die ihr die Tochter am Vortag schmunzelnd aufgetragen hat. Sie selbst wird an der Strecke stehen und wie immer, wenn ihr Mann einen Marathon rennt, anfeuern, ein Schild mit Überraschungsnachricht hochhalten und stärkende Gels angeben.

"20? Oh Gott, nein, das wäre ja Weltrekordgeschwindigkeit – lieber zwischen 13 und 15 Stundenkilometer!", kommentiert der ambitionierte Läufer und lacht. Verdammt schnell ist das trotzdem, das weiß die ganze Familie.

Aus der Not eine Tugend gemacht

Es ist nicht der erste Marathon des Schwiegersohns im Zollernalbkreis – am 15. April hatte er sich einen Marathonlauf zum Geburtstag gewünscht. Damals fuhr der Schwiegervater als Pace-Maker nebenher, heute ist der Sportschütze aber selbst beschäftigt mit einem offiziellen Wettkampf, bei dem er nicht fehlen darf. Und so springen kurzentschlossen Schwiegermutter und auch Schwager aufs Rad.

"Eigentlich lebt Marathon ja vor allem auch von der unfassbaren Stimmung vor Ort – die vielen Tausend Menschen, mit denen man um die Wette rennt, die Musik am Streckenrand, die unfassbaren Kulissen in der jeweiligen Stadt, aber das hier ist irgendwie schön auf eine andere Art." Aus der Not eine Tugend zu machen, ist typisch für den ambitionierten Hobbyläufer. Andreas Trotzke ist in seinem Freundes- und Familienkreis als ewiger Optimist und Gute-Laune-Feuerwerk bekannt.

"Irgendwie hat uns diese ganze Coronazeit noch mehr zusammengeschweißt – und sportlicher gemacht", sagt die Schwiegermutter grinsend und setzt schon mal den Fahrradhelm auf – es wird Zeit.

Von Bisingen nach Schömberg - und zurück!

Während sich in London Weltrekordhalter Eliud Kipchoge warmläuft für seine 19 Runden à 2,15 Kilometer im St. James Park, huschen auch in Bisingen alle geschäftig durchs Haus. Startnummer anheften, letzte Absprachen und Streckenänderungen: "In Balingen ist eine Umleitung, da müssen wir mal schauen, wie du da rennst, am besten unter der Brücke lang!" Und dann geht es los: von Bisingen über Engstlatt und Balingen bis zum Schömberger Stausee und zurück. 42,195 Kilometer London-Marathon im Zollernalbkreis.

Andreas Trotzke strahlt übers ganze Gesicht, als er um 10 Uhr losrennt – es ist der Renn-Höhepunkt des Jahres für ihn. Seit Jahren nimmt der "Marathoni" nicht nur ambitioniert und leidenschaftlich an allen großen Läufen der Welt teil, sondern richtet auch sein ganzes Jahr nach den jeweiligen Marathon-Terminen aus und beginnt schon Monate zuvor mit dem harten Training. Corona stellte alle Pläne auf den Kopf: Erst musste er seine Reise zum Rom-Marathon absagen, dann wurde Valencia nach langem Hin und Her abgesagt, nur London stand monatelang unter einem großen, hoffnungsvollen Fragezeichen. Dank sogenannter "Bio-Secure-Bubble" darf die Elite nun vor Ort gegeneinander antreten. Das motiviert natürlich auch die Läufer, die virtuell und doch zeitgleich mit dabei sein können.

Um 11.27 Uhr summt das Handy: "Kehrtwende in Schömberg!" Der Schwager hält seine Schwester auf dem Laufenden. Die rechnet hoch – es könnte mal wieder klappen mit dem Unter-3-Stunden-Marathon. "Eliud hat die erste Wasserflasche gegriffen, es läuft nicht so gut bei ihm!", antwortet sie schnell und hofft, dass der Bruder die News reinruft ins Rennen. "Schick’ mal Jubel, ich spiel’s ihm vor, wenn es hart wird!", kommt zurück, und so jubelt und schreit der größte Fan des Marathonläufers aufmunternde Parolen, während sie den Whatsapp-Sprachnachricht-Knopf gedrückt hält. Danach herrscht wieder totale Stille um sie herum. Willkommen beim Marathon-Erlebnis 2020.

16 Minuten langsamer als sein Rekord

Um 13.07 Uhr ist es dann soweit: Unter johlenden Zurufen der Familienmitglieder und Ehefrau erreicht der Läufer sein Rundkurs-Ziel an der Bisinger Feuerwehrwache. 3 Stunden und 5 Minuten wurden es am Ende – langsamer als seine Bestzeit von 2:49 Stunden aus dem Jahr 2018 beim Barcelona-Marathon.

"Unterhaltsam war es allemal", sagt Andreas Trotzke und lacht, die Anstrengung sieht man ihm noch an. "Ich habe zwar immer nur die Hälfte der Schlachtrufe verstanden, aber mein schwäbisches Gehör wird immer besser", sagt der Linguistik-Professor, der ursprünglich aus Duisburg stammt, verschmitzt und lässt sich die schwäbischen Schlachtrufe wie "Beweg s’Ärschle!" und "Du bisch unser Alb-Traum!" von seiner Frau nach dem Lauf übersetzen.

"Sauschnell war er!", kommentiert die Schwiegermutter. Sie musste richtig in die Pedale treten, um hinterherzukommen. "Jetzt gibt’s erst mal Kürbissuppe mit Bauernbratwürstle!" Belohnung und zugleich Stärkung für den nächsten Marathon des Tages: Am Nachmittag startet die Ehefrau zu ihrem 10-Kilometer-Lauf. "Für mich ist das Marathonlänge", sagt sie stolz und auch das zweite Betreuerteam des Tages steht schon in den Startlöchern: Diesmal brechen Vater und Tochter gemeinsam auf. Der Pace-Maker-Papa freut sich: "Corona-Not macht kreativ. Und sportlich, wie man sieht. Und jetzt: los!"”