Das Shahbandar ist ein Ort, an dem sich verschiedene Generationen treffen. Manche der jungen Gäste berichten, dass schon ihre Väter und Großväter hierherkamen. Foto: Hanna Spanhel

Seit dem Ende des Krieges vor gut 20 Jahren hat der Irak jahrelang Chaos und Krisen erlebt. Wie das die Menschen und ihre Hauptstadt verändert hat, erfährt man am besten bei einem Kaffeehaus-Besuch. Begegnungen im Shahbandar.

Schon beim Öffnen der Holztüre dringt der Geruch von heißem Zitronentee und Wasserpfeifendampf auf die Straße. Im Innern geht man auf eine Zeitreise: An den Wänden reihen sich historische Aufnahmen von Bagdad und goldgerahmte Schwarz-Weiß-Bilder von Persönlichkeiten, die hier einst zu Besuch waren. Das Café ist gut besucht um die Mittagszeit. Saadi Aboud Teama, 72 Jahre alt, kommt seit den 1970er Jahren hierher, mindestens einmal pro Woche. „Das Shahbandar ist Bagdads Seele und sein Gedächtnis“, sagt der pensionierte Lehrer. Heute ist er mit einem alten Freund hier, zum Teetrinken, Rauchen und Diskutieren – bevor sie eine Büchermesse besuchen.

 

Über all die Jahrzehnte, all die politischen Entwicklungen hinweg, habe das Café Bagdads Erbe bewahrt, sagt Saadi Aboud Teama. „Die Jahre der Besatzung und der Kämpfe haben das Leben auf den Straßen Bagdads beeinflusst.“ Sie hätten Chaos und Angst in die Stadt gebracht, die nationale Identität ausgehöhlt, die Menschen gespalten. In all der Zeit aber seien die Leute stets an Orte wie diesen gekommen, „um den Geist Bagdads zu bewahren und das schöne Leben zurückzubringen“.

„Kairo schreibt, Beirut verlegt, und Bagdad liest“

Das Shahbandar gilt als eines der ältesten Kaffeehäuser der irakischen Hauptstadt, als Treffpunkt der Intellektuellen, der Politiker, der Dichter und Denker. Es eröffnete vor mehr als einem Jahrhundert, wo vorher eine Druckerei war – mitten in der Mutanabbi-Straße, der bekannten Bücherstraße von Bagdad, benannt nach einem der bedeutendsten arabischen Poeten. Seit Jahrhunderten schon, so wird es erzählt, hätten die Menschen hier in der Straße mit Büchern gehandelt. „Kairo schreibt, Beirut verlegt, und Bagdad liest“, so lautet eine alte arabische Redensart. Im Shahbandar hört man diesen Satz des Öfteren.

Die Straße und das Café sind Zeugen der zahlreichen Umbrüche, die der Irak in den vergangenen Jahrzehnten erlebt hat. Jahrzehnte unter britischer Einflussnahme, der Sturz der probritischen Monarchie im Jahr 1958, die Ausrufung der Republik, dann Jahrzehnte unter dem Diktator Saddam Hussein, der erste Golfkrieg Ende der 80er Jahre gegen den Iran, der zweite Anfang der 90er gegen die USA, dann die Invasion durch eine US-geführte Militärkoalition vor 20 Jahren, die darauf folgende Besatzung und schließlich jahrelange Kämpfe gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS).

Der Terror traf auch die Mutanabbi-Straße. Im März 2007 explodierte hier eine Autobombe, 30 Menschen wurden getötet und rund 100 verletzt. Die historische Bücherstraße und das Shahbandar waren verwüstet, weltweit erregte das Aufsehen. Hajj Mohamad al-Khashali, bis heute Inhaber des Cafés, verlor bei dem Anschlag vier Söhne und einen Enkel. „Es herrschte Verwüstung“, sagt al-Khashali. Heute säumen ein alter Plattenspieler, angelaufene Messingkaraffen, alte Teekannen und Wasserpfeifen neben den vielen Fotos die Regale und Wände des Cafés, erst auf den zweiten Blick erkennt man, dass der Raum gar nicht so alt ist. „Wir haben das Café wieder aufgebaut und eingerichtet“, sagt der Inhaber.

Viele Iraker haben das Vertrauen in die politischen Prozesse verloren

Die Jahre von Krise und Konflikt haben die irakische Gesellschaft gezeichnet, das zeigt sich nicht nur an Orten wie dem Shahbandar. „Das Erstarken der Terrormiliz IS hat vieles verändert, die Wunden sind noch immer zu bemerken“, sagt Auke Lootsma vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) im Irak. Tausende Jesidinnen und Jesiden sind getötet oder vertrieben, viele jesidische Frauen missbraucht und schwer traumatisiert worden. Viele Iraker haben in den letzten Jahrzehnten Familienmitglieder verloren. Psychische Probleme seien weit verbreitet, sagt Lootsma – auch oder gerade unter jungen Menschen. „Ein Land und eine Gesellschaft wieder aufzubauen, wenn viele Menschen traumatisiert sind, dauert lange Jahre.“

Das gesellschaftliche Leben, die Kultur, das historische Erbe, die Wirtschaft – all das steht im Irak noch immer unter dem Eindruck der Krisenjahre. In Bildung wurde über Jahre hinweg wenig investiert, das Gesundheitssystem ist marode, die Wirtschaft ist abhängig vom Öl, die Landwirtschaft leidet unter massiven Dürren und Wasserknappheit, es gibt Probleme mit Waffengewalt und Drogenkonsum, und gerade die Jugendarbeitslosigkeit ist hoch. „Dass der Privatsektor schwach ist, ist besonders für Frauen und junge Menschen ein Nachteil“, sagt Irak-Experte Lootsma. Und dann ist da noch die Korruption. In einer UNDP-Studie aus dem vergangenen Jahr heißt es, die Korruption sei in den Augen der Irakerinnen und Iraker das größte Problem im Land – und nach ihrer Überzeugung eng verknüpft mit dem politischen System. Viele Menschen im Land haben das Vertrauen in die Regierung und politische Prozesse verloren. „Das Level an Frust ist sehr hoch“, sagt Auke Lootsma.

Drei Kriege seit den 80er Jahren

Immer wieder hat sich dieser Frust in den vergangenen Jahren im Irak Bahn gebrochen, ab Oktober 2019 kam es zu großen Demonstrationen. Tausende, vor allem junge Menschen, protestierten gegen Korruption, die hohe Arbeitslosigkeit, die schlechte öffentliche Versorgung, die US-Präsenz im Land und die Einmischung des Iran. Sie forderten politische Veränderungen und ein Ende des politischen Systems, das nach der US-geführten Invasion 2003 etabliert wurde und in dem viele die Ursache für Klientelismus sehen. Doch die Proteste wurden von Sicherheitskräften und Paramilitärs gewaltsam aufgelöst, Hunderte Menschen starben.

Was folgte, war eine politische Krise. Nach den Parlamentswahlen im Oktober 2021 gelang es gut ein Jahr lang nicht, eine neue Regierungskoalition zu bilden, es kam immer wieder zu Tumulten – bis sich der schiitische Geistliche Muktada al-Sadr aus der Politik zurückzog und seine Anhänger aufrief, ihre Tumulte zu beenden.

„Ein großer Teil der jüngeren Generation hat andere Werte“

Doch neben all den Herausforderungen und Krisen gebe es auch positive gesellschaftliche Entwicklungen, betont Lucas Lamberty, der Ende 2022 das Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Bagdad aufgebaut hat. Gerade die jüngere Generation stehe weiter für Veränderungen ein. „Ein großer Teil der jüngeren Generation hat andere Werte. Sie sind säkularer, liberaler als die älteren Generationen, wissbegierig und interessiert am internationalen Austausch.“ Dieser Generationenkonflikt werde wohl in den kommenden Jahren immer wieder aufkommen, glaubt der Irak-Experte – und womöglich Veränderungen anstoßen. So, wie die sich wandelnde Rolle von Frauen. „Die Gesellschaft ist konservativ, es ist nach wie vor eine männerdominierte Welt hier“, sagt Lamberty. „Aber es ändert sich etwas. Es sind heute mehr und mehr Frauen in der Arbeitswelt, im Parlament gibt es eine Frauenquote, und gerade in der Zivilgesellschaft spielen Frauen eine sehr starke Rolle.“

Der Wandel der Gesellschaft, er zeigt sich auch im Shahbandar. Im Café sitzen viele junge Erwachsene, manche alleine mit einem Buch, andere mit Freunden. Imane Ahmad, 30 Jahre alt, kommt öfter hierher. Am liebsten trinkt sie Tee mit Kardamon, ohne Zucker, wie an diesem Tag auch. „Ich mag die Geschichte, die in diesem Ort steckt.“ Schon ihr Großvater und Vater seien regelmäßig hier gewesen, sagt die Bagdaderin. Doch seither habe sich vieles verändert. „In unserem Land war lange bekannt, dass Cafés nur etwas für Männer sind. Aber diese Routine wurde durchbrochen.“ Auch ins Shahbandar kämen heute sowohl Frauen als auch Männer – und verschiedene Generationen. „Das bedeutet: Hier treffen sich junge und alte Menschen. Hier treffen sich zwei Kulturen, zwei Gesellschaften. Das ist gut.“