Auf dem Weg an die Front: Soldaten besteigen im August 1914 einen Zug am Balinger Bahnhof. Foto: Stadtarchiv / Montage: Hertkorn

Bisher wenig beachtet: Louis Landerer, Lehrer der Sichelschule, führte Chronik über die Lage in Balingen während der Jahre 1914 bis 1918

Von Steffen Maier

Balingen. Wie war das damals? Der Beginn des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren hatte tiefgreifende Konsequenzen für Europa, das deutsche Kaiserreich, das Königreich Württemberg – und die damalige Kleinstadt Balingen. Über die Verhältnisse vor Ort führte der damalige Sichelschul-Lehrer Louis Landerer Chronik.

Das Buch, das bisher wissenschaftlich nicht erfasst und auch öffentlich nicht bekannt ist, hütet Hans Schimpf-Reinhardt im Stadtarchiv. Auf 121 Seiten beschreibt Landerer die Situation vor 100 Jahren in Balingen – beginnend mit der Lage kurz vor Beginn des Kriegs bis hin zu dessen Ende. Das Buch ist im Jahr 1937 erschienen. Darin zusammengetragen hat Landerer seine Notizen und Erinnerungen, die er, da ist sich Stadtarchiv Schimpf-Reinhardt sicher, bereits während der Kriegsjahre in Tagebuchform aufgezeichnet hatte.

Nicht immer ist Landerer, der im Jahr 1924 das Balinger Heimatmuseum im Erdgeschoss der Sichelschule gründete, bei seiner Schilderung der Kriegsjahre objektiv geblieben. Deutlich wird, dass die damalige Zeit und deren Sichtweisen – insbesondere die Anfangsjahre des Nationalsozialismus – bei der endgültigen Niederschrift ihren Einfluss ausgeübt haben. Auf der anderen Seite nennt Landerer Fakten, die zur Rekonstruktion der Kriegsjahre aus Balinger Sicht für Geschichtsinteressierte ein wahrer Schatz und eine ansprechende Lektüre sind.

Balingen war im Jahr 1914 ein Beamtenstädtchen, wie Landerer schreibt, mit 4100 Einwohner, 1100 Haushalten und rund 900 Gebäuden. An der Spitze der Verwaltung stand seit 1907 Stadtschultheiß Friedrich Hofmann, ein Mann von "jugendlicher, arbeitsfroher Kraft".

Vor Ort seien die Meldungen, dass es zum Krieg kommen könnte, aufmerksam verfolgt worden – Ende Juli, als die Zeitung mit dem Titel "Der Krieg steht vor der Tür!" aufmachte, habe sich Panik breitgemacht. Die Leute hätten kopflos Geld bei der Bank abgehoben, einige begannen offenbar, Wertgegenstände zu vergraben. Unter Balingern wurde zudem die Möglichkeit einer feindlichen Invasion diskutiert, schließlich, so Landerer, habe der Albübergang eine strategisch wichtige Bedeutung. Allgemein sei jedoch die Ansicht vertreten worden, dass der Krieg, wenn er denn ausbrechen sollte, aufgrund der modernen Waffen in kürzester Zeit beendet sein würde.

Am Tag der Kriegserklärung Anfang August 1914 traten die Menschen in Balingen auf die Straßen, berichtet Landerer. Jugendliche sangen patriotische Lieder. Verbreitet war demnach aber auch eine gewisse "Kriegspsychose", Gerüchte machten die Runde wie jenes, dass die Franzosen das Balinger Trinkwasser vergiftet hätten. Stadtschultheiß Hofmann musste beruhigen.

Am Tag der Mobilmachung, als die ersten Soldaten vom Balinger Bahnhof aus an die Front fuhren, habe es eine strenge Überwachung der Gaststätten – insbesondere "Bären", "Sonne" und "Lang" – und des Alkoholausschanks gegeben. Zum "Schutz der Heimat" wurde in der Stadt ein Wachdienst eingerichtet, an dem sich jeder gesunde Bürger beteiligen musste; bewaffnet wurden diese mit Militärgewehren und Flinten. Auch eine Jugendwehr wurde ins Leben gerufen; deren Eifer ließ laut Landerer indes schnell nach. Frauen wurden aufgerufen, sich als Helferinnen zu engagieren.

Der Krieg und die Kriegswirtschaft brachte für die Balinger wie auch für alle anderen Bewohner des Deutschen Reichs einschneidende Veränderungen und vor allem eines mit sich: Entbehrung. Lebensmittel wurden nach und nach rationiert. Knapp war alles: Milch, Butter, Eier, Fleisch. Mehl beispielsweise wurde so kostbar, dass es verboten war, daraus Kuchen zu backen. "Nur schwer gewöhnen sich die Leute an die schmale Kost", schreibt Landerer. Fett mussten die Balinger Metzger abliefern – damit wurden auch die Heselwanger versorgt, weil, wie Landerer notiert, es dort zu dieser Zeit keinen Metzger gegeben habe.

Zu allem Überfluss brach während der Kriegsjahre – im Januar 1916 und im Februar 1917 – auch noch die Maul- und Klauenseuche aus und befiel zahlreiche Tiere der Balinger Landwirte. Im Jahr 1917 wurde in den Mostereien sogar der Obsttrester eingezogen. Hergestellt wurde daraus die sogenannte "Heldenschmiere", eine schöne Umschreibung für eine Art Marmelade.

Mangel herrschte aber auch bei der Kleidung. Es sei bald jedermann froh gewesen, wenn er wenigstens wasserdichte Schuhe habe tragen können, so Landerer. Die Balinger Schüler strickten im Hauswirtschaftsunterricht Socken für die Soldaten an der Front, sammelten Eicheln für die Schweinemast und Brennnesseln als Gänsefutter. All das habe geholfen, so Landerer, den "nationalen Geist" und dem "Willen zum Zusammenhalt" zu vermitteln.

Knapp war in diesen Jahren auch Brennmaterial, insbesondere während des eisig kalten Winters des Jahres 1916/17. Bei Brennholzversteigerungen seien "wahnsinnige Preise" verlangt worden, so Landerer. Die Leute seien in den Wald gegangen, um Tannenzapfen zum Feuern zu sammeln. Die Werkzeugfabrik Götz entwickelte eine spezielle Presse, mit der aus Altpapier Briketts zum Heizen gefertigt wurden. Diese Not hatte auch fatale Folgen: So berichtet Landerer vom Fall des 86-jährigen Balinger Schuhmachers Haas, der erstickt sei, weil er seine Stube mit untauglichem Material zu wärmen versucht habe.

Zu spüren bekamen die Kriegserfordernisse auch die Balinger Kirchengemeinden: Zunächst musste im Juli 1917 die katholische Gemeinde drei Kirchenglocken abliefern, im Mai 1918 wurden auch zahlreiche Orgelpfeifen sowie zwei Glocken der Stadtkirche eingezogen und zu Kriegsgerät eingeschmolzen. Der damalige Dekan Meißner hielt auf dem Marktplatz eine "ergreifende Abschiedsrede", so Landerer. In Erinnerung blieb der Abtransport der Stadtkirchenglocken auch deshalb, weil eine von ihnen aus dem Turm herunterfiel, den auf dem Marktplatz stehenden Kastanienbaum zerschmetterte und sich tief in den Boden eingrub.

Während der Kriegsjahre ging die Zahl der Geburten in Balingen stark zurück. Waren es vor Kriegsbeginn rund 90 Kinder, die pro Jahr das Licht der Welt erblickten, so sank diese Zahl 1915 auf 62. 1916 wurden 49, 1917 dann 44 und 1918 55 Neu-Balinger geboren.

Das kulturelle Leben während des Kriegs beschränkte sich vor allem auf Benefiz- und Wohltätigkeitskonzerte. Bereits im September 1914 waren Tanzbelustigungen komplett verboten worden, berichtet Landerer. Das habe geholfen, die "sittlichen Zustände" zu bewahren. Zudem gab es einige Vorträge zum Krieg, in deren Anschluss indes mit Fortschreiten der Kriegsentbehrungen auf Seiten der Zuhörer immer stärker der Missmut angesichts der Zustände zum Ausdruck gekommen sei.

Auch nach dem Ende des Kriegs blieb die Lage unerfreulich. Balingen habe eine hohe Last an Einquartierungen durchziehender Soldaten zu tragen gehabt, schreibt Landerer. In den Monaten Oktober und November 1918 wütete die Spanische Grippe in der Stadt. "Ganze Familien waren krank", so Landerer. "Der Tod hielt reiche Ernte."

Viele Menschen waren arbeitslos, die Verwundeten kehrten in ihre Heimatstadt zurück. Im März 1919 wurde die Ortsgruppe Balingen des Verbands deutscher Kriegsbeschädigter gegründet. Viele Kriegsheimkehrer erhielten Orden und Abzeichen. Von den 600 Balingern, die in den Krieg gezogen waren, kehrten 144 nicht zurück. Ihnen zu Ehren wurde ein Denkmal am Friedhof errichtet.

"Die Toten", so Landerer, "liegen nur zum kleinen Teil in der heimischen Erde; die meisten liegen draußen in Feindesland von Ägypten bis Flandern, von den Vogesen bis tief hinein nach Russland.".