Balingens Oberbürgermeister Helmut Reitemann und Landrat Günther-Martin Pauli verfolgen, wie sich EU-Kommissar Günther Oettinger ins goldene Buch des Zollern­albkreises einträgt. Foto: Hertle

EU-Kommissar skizziert bei Neujahrsempfang in Stadthalle Herausforderungen für Europa.

Balingen - Etwas pessimistisch betitelt hat Günther Oettinger, früherer Ministerpräsident und heute EU-Kommissar für Haushalt und Personal, seine Ansprache bei der Neujahrssitzung des Kreistags: "Hat Europa noch eine Chance?"

Der Gastgeber, Landrat Günther-Martin Pauli, ging in der Stadthalle Balingen nach der Begrüßung der zahlreichen Gäste auf das ein, was den Zollernalbkreis und seine Bewohner bewegt: Finanzen, Bildung, Breitband, Mobilität und der Abbau von Barrieren. Stichworte sind etwa der Abbau der Kreis-Schulden, die medizinische Versorgung, das Backbone-Netz, das Schulwesen, die Einrichtung eines Migrationsbeirats und Workshops zur Armutsprävention. Pauli rief nicht nur die Ortschafts-, Stadt- und Kreisräte, sondern alle Bürger dazu auf, sich dafür einzusetzen, dass die "erschreckend niedrige" Wahlbeteiligung von 46,5 Prozent im Jahr 2014 deutlich gesteigert wird.

Das demokratische System dürfe nicht einschlafen, gerade in einer Zeit, da sich die politische Kultur zum Negativen verändere und die Debatten rauer würden.

Die Menschen seien verunsichert; Entfremdung und Enttäuschung seien spürbar. Um so mehr gelte es, sich für eine friedliche, menschliche, gewaltfreie, demokratische und barrierefreie Gesellschaft einzusetzen.

"2050 ist übermorgen", mahnte Günther Oettinger zu Anstrengungen, die europäische Wertordnung mit liberaler Gesellschaft, Toleranz, Binnenmarkt und Frieden zu bewahren und zu verteidigen. Diese befinde sich zunehmend in Konkurrenz mit anderen Kräften wie Terror und Islamismus, aber auch Autokraten "wie im Weißen Haus" und Staatskapitalismus, wie ihn China praktiziere.

Die jüngste Geschichte habe gezeigt, wie Frieden durch gemeinsame europäische Bemühungen wieder hergestellt werden könne. Den Binnenmarkt bezeichnete Oettinger als Grundlage des Wohlstands in Baden-Württemberg, Deutschland und Europa: "Für Trump ist er ein Ärgernis, für uns ein Gewinn."

Der frühere EU-Kommissar für Energie sowie für die digitale Wirtschaft und Gesellschaft rief dazu auf, das Tempo bei der digitalen Revolution zu verschärfen: "Europa liegt weit zurück."

Deutsche Traditionsunternehmen würden im Börsenwert von jungen US-Konzernen wie Apple, Microsoft und Google weit überflügelt, ebenso von chinesischen Firmen. Manche Debatten in Deutschland empfand Oettinger als zu kleinkariert angesichts der schwächelnden Autoindustrie, einst das Rückgrat der deutschen Wirtschaft, oder absehbaren Eintrübungen der Konjunktur, bedingt durch den Brexit oder den Handelsstreit mit den USA.

Doch nur mit einer starken deutschen Stimme im europäischen Team könne es gelingen, die Europäische Union als Erfolgsgeschichte zu erhalten.

Er warnte vor Populisten, die alles daran setzten, diese zu zerstören, und in Europa am Werk seien. Sein Augenmerk müsse Europa auf Afrika richten, mahnte Oettinger, einen Kontinent mit rasant wachsender Bevölkerung und großem Potenzial: "Entweder wir exportieren dorthin Stabilität, oder wir importieren Instabilität." "Ich träume von einer europäischen Armee". so Oettinger. Die EU müsse selbst für ihre Sicherheit sorgen. Er rief auch dazu auf, die Europawahl nicht zu vernachlässigen. "Wir müssen deutlich zeigen, dass wir Europa erhalten und nicht von Washington D.C. und Peking regiert werden wollen", betonte der Politiker.

Weil sich Oettinger "warm anziehen" müsse, schenkte ihm Pauli Funktionsunterwäsche aus dem Zollernalbkreis. Die Junge Bläserphilharmonie Zollernalb hatte unter Leitung von Johannes Nikol den Abend mit Musikstücken wie "God’s Country" und "At World’s End" von Hans Zimmer und einem 80er-Jahre-Mix umrahmt.