Die Ministerinnen Baerbock (li.) und Faeser machten sich ein Bild der Lage in der Erdbebenregion Foto: dpa/Fabian Sommer

Auch während der Reise von Annalena Baerbock und Nancy Faeser ins türkisch-syrische Katastrophengebiet kommt die Erde nicht zur Ruhe. Die Ministerinnen zeigen sich betroffen und sagen mehr Hilfe zu.

Weiße Zelte des türkischen Katastrophenschutzamtes Afad reihen sich in einem Lager in der Stadt Pazarcik aneinander. Vor einigen Zelten liegt Brennholz, bei anderen sind die Planen am Eingang mit Steinen beschwert, damit sie im kalten Wind nicht flattern.

„Dieses offene Gelände hier benutzen wir als Spielplatz“, sagt ein türkischer Beamter, der Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) und Innenministerin Nancy Faeser (SPD) am Dienstagnachmittag durch das Lager führt. Beim Besuch der deutschen Ministerinnen in der Erdbebenzone wird vor allem eines deutlich: Die Türkei wird noch lange Hilfe brauchen – zumal die Erde immer noch bebt. Auch während ihres Besuches in Südostanatolien habe es gewackelt, sagt Baerbock.

Der türkische Südosten war am Vorabend der Ministerinnenreise erneut von zwei schweren Erdstößen erschüttert worden. Dabei kamen nach türkischen Regierungsangaben sechs Menschen ums Leben, fast 300 wurden verletzt. Tausende Menschen stürzten panisch aus ihren Häusern. Bei den ersten Beben vor zwei Wochen starben mehr als 41 000 Menschen in der Türkei, weitere 6000 wurden im benachbarten Syrien getötet, Hunderttausende verloren ihr Dach über dem Kopf. Seitdem hat der Afad-Katastrophenschutz mehr als 300 000 Zelte aufbauen lassen. In Pazarcik, dem Epizentrum des ersten Bebens Anfang Februar, stehen einige davon.

„Viel Leid gesehen“

Baerbock und Faeser landeten am Flughafen der Stadt Gaziantep nahe der syrischen Grenze, wo viele Hilfslieferungen aus Deutschland ankommen, und übergaben symbolisch eine Ladung des Technischen Hilfswerkes. Nach ihrem Treffen mit Erdbebenopfern zeigten sich die Bundesministerinnen bei einer improvisierten Pressekonferenz vor einem zerstörten Gebäude erschüttert.

Die Dimension des Unglücks lasse sich kaum in Worte fassen, sagte Baerbock. „Man spürt an jedem Ort, wie das Beben noch in den Menschen drinsteckt.“ Sie habe mit einem 16-jährigen Jungen geredet, der beim ersten Beben in den frühen Morgenstunden des 6. Februar seinen kleinen Bruder aus dem Haus gerettet und anschließend mit ihm zwei Tage im Schlafanzug verbracht habe, sagte Baerbock. Was sie bei dem Besuch erlebt habe, „das hat einem das Herz zerrissen“, berichtete Faeser. Sie habe „viel Leid gesehen“.

350 Tonnen an Hilfsgütern wie Feldbetten, Zelte und Schlafsäcke

Auch die umstrittene Notvisa-Regelung, mit der obdachlose Erdbebenopfer drei Monate lang zu Verwandten in Deutschland ziehen dürfen, war ein Thema beim Besuch. Deutschland setzt einen „Visabus“ ein, bei dem Anträge auf Besuchsvisa im Erdbebengebiet abgegeben werden können. Kritiker der Sonderregelung beklagen, dass Deutschland selbst bei Erdbebenopfern, die alles verloren haben, auf die Vorlage eines Reisepasses besteht. Bis Montagabend sind nach Angaben des Auswärtigen Amts 96 Schengen-Visa nach dem vereinfachten Verfahren erteilt worden. Faeser wies die Kritik zurück: Schließlich sei sie als Innenministerin für die Sicherheit in Deutschland zuständig. Außerdem erhalte Deutschland von den türkischen Behörden Hilfe bei der Datenübermittlung. Derzeit sei noch nicht klar, wo es Probleme bei der Regelung gebe. Baerbock betonte mehrmals, dass es angesichts der gewaltigen Zerstörungen mit Nothilfe nicht getan sei. „Die Hilfe wird lange andauern müssen“, sagte die Außenministerin und gab die Bereitstellung von weiteren 50 Millionen Euro an deutscher Unterstützung bekannt: 33 Millionen für die Türkei und 17 Millionen für die Opfer in Syrien. Damit hat Berlin etwa 60 Millionen Euro an Hilfen für die Türkei und rund 50 Millionen Euro für Syrien zugesagt. Zu der Unterstützung gehören bisher rund 350 Tonnen an Hilfsgütern wie Feldbetten, Zelte und Schlafsäcke.

Deutschland steht mit solchen Summen nicht allein. Die USA haben 185 Millionen Dollar für die zwei betroffenen Länder bereitgestellt; die Vereinigten Arabischen Emirate versprechen der Türkei und Syrien je 50 Millionen Dollar.

Doch das wird lange nicht ausreichen. Die Schäden im türkischen Erdbebengebiet belaufen sich nach Schätzung des Wirtschaftsverbandes Türkonfed auf rund 84 Milliarden Dollar, das sind rund zehn Prozent der türkischen Wirtschaftskraft. Mehr als hunderttausend Gebäude wurden zerstört oder so schwer beschädigt, dass sie unbewohnbar sind. Hinzu kommen die schweren Schäden auf der syrischen Seite der Grenze, wo die Menschen bisher weit weniger Hilfe erhalten haben als die Betroffenen in der Türkei.

Die türkische Regierung ist nach Einschätzung von Experten jedoch dabei, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen: Sie will ab nächste Woche mit dem Bau von 200 000 neuen Häusern beginnen – obwohl die Erde immer noch bebt. Innerhalb eines Jahres will die Regierung Hunderttausenden obdachlosen Erdbebenopfern ein neues Zuhause bieten. „Gebt mir ein Jahr“, sagt Präsident Recep Tayyip Erdogan bei seinen Besuchen im Unglücksgebieten immer wieder.

Erdogan hat es eilig

Mit dem raschen Wiederaufbau will Erdogan der Kritik an der schlecht koordinierten und mancherorts langsamen Reaktion des Staates auf das schwere Beben von Anfang Februar begegnen, vor allem mit Blick auf die bis Juni anstehenden Wahlen in der Türkei. Der Bausektor war in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine der Branchen, auf denen Erdogans wirtschaftliche Erfolge gründeten. Beim Bau der neuen Häuser, die höchstens vier Stockwerke haben dürften, werde sich die Regierung am Rat von Geologen und Seismologen orientieren, verspricht Erdogan.

Fachleute wie Esin Köymen, eine frühere Vorsitzende der Architektenkammer in Istanbul, fordern, dass die eingestürzten Gebäude zuerst einmal gründlich untersucht werden müssten. Damit sollten Beweismittel für mögliche Anklagen gegen Bauherren und Behördenvertreter wegen tödlichen Pfuschs am Bau gesichert werden, erklärte Köymen. Zudem müsse eine Stadtplanung auf der Grundlage wissenschaftlicher Daten sicherstellen, dass nicht wieder in der Nähe aktiver tektonischer Verwerfungslinien gebaut werde, sagte sie.

Doch Erdogan hat es eilig. Bauminister Murat Kurum sagte am Montag, die geologischen Studien für die geplanten Neubauten liefen bereits. Wenige Stunden später bebte die Erde wieder.