Bundeskanzler Willy Brandt kniet am 7. Dezember 1970 vor dem Mahnmal im einstigen jüdischen Ghetto in Warschau, das den Helden des Ghetto-Aufstandes vom April 1943 gewidmet ist. Foto: dpa

Die These einer Inszenierung hat Willy Brandt, Begründer der Ostpolitik, zurückgewiesen

Warschau - Große Gesten sagen mitunter mehr als tausend Worte. Aber sie können auch missverständlich und erklärungsbedürftig sein. So verhält es sich bis heute mit Willy Brandts Kniefall von Warschau, der sich am Dienstag zum 40. Mal jährt.

Wohl nur wenige historische Ereignisse des 20. Jahrhunderts sind in ihrer Bedeutung so oft neu vermessen worden wie die Demutsgeste des ersten SPD-Bundeskanzlers am 7. Dezember 1970. War sie eine geplante Inszenierung oder ein spontaner Akt? Und an wen richtete sie sich überhaupt? Hört man auf den Protagonisten selbst, so war das Geschehen zwar hoch emotional, zugleich aber ein eher schlichter Vorgang: "Am Abgrund der deutschen Geschichte", erinnert sich Brandt später, "und unter der Last Millionen Ermordeter tat ich das, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt." Und so sinkt der deutsche Regierungschef an jenem trüben Dezembermorgen vor dem Denkmal für die im Warschauer Ghetto von den Nazis ermordeten Juden auf die Knie.

Kerzengerade und regungslos verharrt der Kanzler auf den feuchtkalten Steinplatten. Die Delegationsmitglieder sind verblüfft, vielen stockt der Atem. Selbst die umtriebige Schar der Journalisten verstummt. Solch eine Wirkung einer Geste sei selten, urteilt Egon Bahr, schon damals ein erfahrener Politprofi und enger Vertrauter von Willy Brandt. Allen Beteiligten ist augenscheinlich bewusst: Hier wird Geschichte geschrieben.

Doch welche Geschichte? Brandt ist im Dezember 1970 in die polnische Hauptstadt gekommen, um den Warschauer Vertrag zu unterzeichnen. Das Dokument ist ein Kernelement der Ostpolitik, die der Chef der sozialliberalen Bundesregierung gegen den erbitterten Widerstand der Unionsparteien forciert. "Wandel durch Annäherung" lautet der von Bahr geprägte Leitsatz der außenpolitischen Strategie, die mit dem Moskauer Vertrag vom 12. August 1970 ihren Durchbruch feiert und 1972 in den Grundlagenvertrag mit der DDR mündet.

Der Warschauer Vertrag soll nach all dem Leid, das der von Nazi-Deutschland entfesselte Zweite Weltkrieg über die Menschen in Ost und West gebracht hat, die Aussöhnung zwischen Deutschen und Polen vorantreiben. Das Abkommen bestätigt auch die Oder-Neiße-Grenze, obgleich die endgültige territoriale Regelung einem Friedensvertrag vorbehalten bleibt. In Polen regt sich Enttäuschung über diese Einschränkung. Vor allem aber empört der Passus viele deutsche Vertriebene und die ihnen verbundene konservative Opposition im Bundestag.

Trotz der Widerstände in beiden Ländern unterzeichnen Brandt und der polnische Ministerpräsident Josef Cyrankiewitsch das umstrittene Papier an jenem denkwürdigen 7. Dezember - zweifellos ein mutiger Schritt. Nur ein Jahr später erhält Brandt für seine Ostpolitik den Friedensnobelpreis.

Der Kanzler habe "im Namen des deutschen Volkes die Hand zur Versöhnung zwischen alten Feindländern ausgestreckt", argumentiert das Nobelkomitee. Zum Symbol dieser auf Verständigung gerichteten Politik wird der Kniefall.

Allerdings ist Brandt vor dem Mahnmal für die im Warschauer Ghetto ermordeten Juden auf die Knie gesunken. Am Grab des Unbekannten Soldaten dagegen hat der Kanzler zuvor in einer eher alltäglichen Geste Blumen niedergelegt. Manche Polen nehmen den Unterschied bis heute wahr.

Sie sehen ihr eigenes Leid in die zweite Reihe gedrängt. Die Tatsache, dass nicht wenige Menschen in den westlichen Ländern die Revolte im jüdischen Ghetto von 1943 mit dem Warschauer Aufstand der polnischen Untergrundarmee 1944 verwechseln, tut ein Übriges.

Blumen für die einen, ein Kniefall für die anderen: Sind die Gesten Zufall oder Absicht? Brandt weist später die These einer bewussten Inszenierung zurück: "Ich hatte nichts geplant, aber ich hatte das Gefühl, die Besonderheit des Gedenkens am Ghetto-Mahnmal zum Ausdruck bringen zu müssen." Für den Friedenspolitiker sind der Holocaust und Hitlers Vernichtungskrieg in Osteuropa selbstverständlich nicht ein und dasselbe, aber eben auch kaum voneinander zu trennen. "Nirgends hatten die Menschen so gelitten wie in Polen", schreibt Brandt später. "Die maschinelle Vernichtung der Judenheit aber stellte eine Steigerung der Mordlust dar." Trotz dieser Differenzierung, die Brandt selbst betonte, stößt der konservative Münchner Historiker Michael Wolfssohn mit seiner These, der Kniefall habe sich in erster Linie an Israel und die Juden gerichtet, auf breiten Widerspruch.

Alt-Bundespräsident Richard von Weizsäcker etwa sagt: "Die zentrale Frage war der Umgang mit den ehemaligen Kriegsgegnern im Osten." So sehen es 1970 auch die meisten Bundesbürger, die sich genau aus diesem Grund in ihrer Mehrheit skeptisch über den Kniefall äußern. Die Hälfte der Deutschen findet die Geste damaligen Umfragen zufolge sogar "übertrieben".

Der polnische Intellektuelle Adam Krzeminski dagegen geht in seiner knappen Interpretation des 7. Dezember 1970 noch weiter als Weizsäcker: "Der Kniefall galt allen Opfern des Nationalsozialismus." Tatsächlich hat Brandt selbst seine Geste "am Abgrund der deutschen Geschichte" wohl so verstanden. Und doch bleibt sie erklärungsbedürftig - bis heute.