Altensteigerin schenkt Eltern das letzte Bild von ihrem Baby. Deutschlandweit hunderte ehrenamtliche Fotografen.
Altensteig - "Wir fotografieren nicht den Tod, sondern das sehnlich erwartete Leben", sagt Anja Corinna Lohr. Sie arbeitet für die Organisation "Dein Sternenkind". Die etwa 600 ehrenamtlichen Fotografen machen Erinnerungsfotos für Eltern, die entweder ein totes Baby auf die Welt bringen oder denen der Tod ihres Neugeborenen unausweichlich bevorsteht.
Als der Alarm losgeht, ist es mitten in der Nacht. Anja Corinna Lohr quält sich aus dem Bett, schnappt sich ihre Fotoausrüstung und fährt nach Herrenberg ins Krankenhaus. Um 2 Uhr kommt sie an, geht ohne Umweg zum Kreißsaal. Sie will keine Zeit verlieren. Dort wird ihr aber gesagt, dass das Baby, das sie fotogafieren soll, noch gar nicht da ist. Also wartet Lohr. Vier Stunden lang sitzt sie vor der Tür.
Im Kreißsaal nebenan wird auch gerade ein Baby geboren. Dort geht es schneller: Der frisch gebackene Vater tritt mit seinem Nachwuchs im Arm auf den Gang und strahlt übers ganze Gesicht, als er an Lohr vorbeigeht.
Hinter der Tür, vor der sie wartet, bleibt es jedoch still. Kein Babyweinen ertönt. Kein Vater lacht. Anja Corinna Lohr weiß, dass das Kind, auf dessen Ankunft sie wartet, nicht mehr am Leben ist. "Und das macht etwas mit einem", sagt sie über die ehrenamtliche Arbeit, die sie trotz allem so sehr liebt. "Es verändert einen. Innerlich. Im Denken. Und zwar nachhaltig."
Man bekommt viel zurück
Fotografieren war immer die Leidenschaft der 50-jährigen Therapeutin aus Altensteig, die ihre eigene Praxis für Gesundheit und Wellness betreibt. "Als ich ein Kind war, hat meine Oma mir eine Kamera geschenkt. Das war lange vor dem digitalen Zeitalter", erinnert sie sich und lacht.
Sicherlich half ihr dieses Hobby bei ihrem ersten Hauptberuf: Sie startete als Journalistin. Doch mit der Zeit merkte sie, dass diese Arbeit sie nicht voll und ganz erfüllte. "Irgendwann fängt man an, sich Gedanken über das Leben zu machen. Mir geht es gut. Ich habe ein Haus und Kinder und Tiere", verrät sie. "Von diesem Glück will ich ein Stückchen abgeben." Vor acht Jahren machte sie sich mit ihrer Energy Emotion Praxis in Nagold selbstständig. Ayuvedische Psychologie ist einer ihrer Schwerpunkte, sie engagiert sich aber auch in der Hospizarbeit.
Siehe auch: Abschied von den Sternenkindern in VS
Schließlich erfuhr Anja Corinna Lohr von "Dein Sternenkind", ein Freund erzählte ihr davon. Die Organisation ist in ganz Deutschland tätig. Als Anja Corinna Lohr einst ihren Bruder verlor, habe sie sich allein gefühlt. "Und jetzt habe ich die Möglichkeit, Menschen in der dunkelsten Stunde ihres Lebens die Hand zu reichen." So bedrückend der Job klinge, man bekomme sehr viel zurück.
Nicht Trauer, sondern Liebe steht im Vordergrund
Als Anja Corinna Lohr eine Fortbildung in Berlin macht, meldet sich ihr Alarm: Sie wundert sich, denn ihre Einsatzgebiete sind der Kreis Calw, Tübingen, Reutlingen, Pforzheim und ab und an auch Baden Baden. Es ist jedoch gerade kein anderer Fotograf verfügbar. Also macht sie sich auf den Weg ins Berliner Krankenhaus.
Das Paar, dessen Baby sie fotografieren soll, besteht aus zwei Frauen. Es war ein absolutes Wunschkind der beiden und stammt aus einer künstlichen Befruchtung. Die Schwangere wird noch behandelt, doch Lohr trifft auf dem Flur die andere Mutter. Sie sitzt im Rollstuhl. Kurz wird geschwiegen. Dann umarmen sie und Anja Corinna Lohr sich, als würden sie sich schon ewig kennen.
Der kleine Junge ist nur so groß wie eine Hand, doch die Bilder von ihm und seinen Müttern gehören zu den schönsten, die Lohr je gemacht hat. Sie ist überwältigt von der puren Liebe, die den Raum erfüllt.
Das Einzige, was bleibt
"Wir fotografieren nicht den Tod, sondern das sehnlich erwartete Leben", sagt die Fotografin. Bei einer Geburt würden Glückshormone ausgeschüttet, erklärt sie. "Ich habe Eltern schon lachen sehen. Ich habe sie über ihr Kind reden gehört, als würde es leben", schildert sie ihre Erfahrungen. Doch irgendwann komme der Abschied. "Alles, was ihnen von dem Moment bleibt, sind die Bilder in ihren Herzen. Und die greifbare Erinnerung, die wir ihnen schenken. Deswegen ist das, was wir tun, so wichtig."
Ein bis zwei Wochen dauere es, bis die Paare die Bilder erhalten. Bis dahin hat Lohr noch ein paar Stunden vor sich, um die Fotos zu selektieren. Dann wird der Speicherstick schön verpackt. "Wir haben Ehrenamtliche, die kleine Holzherzen schnitzen oder Armbänder knüpfen. Solche Dinge legen wir dazu." Es gebe auch Ehrenamtliche, die Kleider für die Sternenkinder nähen, die sie beim Fotografieren tragen. "Es ist unglaublich, was alles dahintersteckt", sagt Anja Corinna Lohr. "Die Hilfsbereitschaft für fremde Menschen kann grenzenlos sein."
Man muss mit dem Herzen sehen
Als Lohr sich entscheidet, ein Sternenkind-Fotograf zu werden, muss sie sich erst einmal bewerben. Das funktioniert online: Sie bekommt einen Link zugeschickt, hinter dem sie einiges abarbeiten muss. Sie wühlt sich durch Datenschutz-Schulungen und Arbeitsbeschreibungen. Dann schickt sie ein Portfolio mit einer Sammlung selbst gemachter Bilder an die Koordinatoren. Und sie wird angenommen.
Schon bald bekommt sie einen Ausweis und dann geht es los. Es ist ein bisschen wie bei der Feuerwehr: Wenn sie einen Auftrag bekommt - einen sogenannten Call -, klingelt ihr Piepser. Eine digitale Anzeige verrät ihr zum Beispiel, in welchem Krankenhaus ein Sternenkind zur Welt kam, ob es schon da ist und ob die Eltern deutsch sprechen. Ansonsten wird ein Dolmetscher organisiert.
Bei der Arbeit braucht sie in erster Linie einen Blick für das Fotografieren. "Man muss mit dem Herzen sehen. Die Motive ergeben sich dann von selbst", ist ihre Philosophie.
Die 600 Fotografen von "Dein Sternenkind" haben im vergangenen Jahr 2877 Einsätze gestemmt, Tendenz steigend. Ein Jahr ist Anja Corinna Lohr dabei. Sie hatte bisher 25 Einsätze. "Jeder davon ist einmalig", weiß sie.
Mit den Reaktionen der Eltern hat sie nur positive Erfahrungen gemacht. Zu einigen hat sie den Kontakt sogar gehalten. Das Berliner Paar zum Beispiel habe sie später einmal besucht. "Sie haben die Bilder ihres Kindes eingerahmt und mit Kerzen im Wohnzimmer aufgestellt."
Die meisten Babys, die Lohr fotografiert, kommen zwischen der 17. und 40. Schwangerschaftswoche auf die Welt. Sie hat auch schon lebende Kinder auf Bildern verewigt. "Einmal waren es Zwillinge. Es war klar, dass einer der beiden kleinen Jungen nicht überleben wird. Nachdem ich das Foto gemacht habe, wurden die Maschinen abgestellt", erinnert sie sich.
Kein Job für jeden
Anja Corinna Lohrs erster Call bleibt ihr im Gedächtnis: Sie wird nach Reutlingen gerufen. Und sie ist sehr nervös, überprüft dauernd, ob sie alles dabei hat. Nicht weil sie befürchtet, dass die Eltern sie nicht mögen. Sondern weil etwas schief gehen könnte. "Und das darf nicht sein. Schließlich mache ich das erste und das letzte Bild von einem Menschen."
Das Kind kam in der 40. Woche. "Da gab es schon Hautablösungen", erinnert sie sich. "Wir reden hier von Fotos von toten Babys", sagt sie unverblümt. "Nicht jeder kommt damit klar. Aber ich wusste nach diesem Tag, dass ich es kann."
Einem müsse klar sein, worauf man sich bei diesem Job einlässt, sagt sie. "Man begegnet Trauer und Verzweiflung." Das koste emotional Nerven und auch Zeit.
Wenn sie einen Auftrag hinter sich hat und das Krankenhaus verlässt, geht sie mit ihrer Kamera erst mal in die Natur und fotografiert Tiere und die Landschaft. "Die Reinigung der Festplatte mit lebenden Bildern", nennt sie das. Aufzuhören kommt der Hobby-Fotografin dennoch nicht in den Sinn. "Ich denke, jeder bekommt im Leben etwas mit." Und sie habe buchstäblich ihre Stärke gefunden. "Ich gehe auf die Menschen zu, aber ich lasse das Gesehene nicht an meine Seele ran. So kann ich den Job machen."
Dennoch habe sich ihr Blick verändert. Wenn sie sich hin und wieder durch ihre Bilderordner klickt, sei sie selbst überrascht, wie viele Einsätze sie gestemmt habe. Dafür verschiebe sie sogar manchmal Termine in der Praxis.
Ihre Patienten haben Verständnis, ebenso wie ihre Familie, für die sie dankbar ist. "Es ist nicht selbstverständlich, ein gesundes Kind zu bekommen. Und ein gutes Leben zu haben." Diese Dinge weiß sie nun umso mehr zu schätzen. "Was wir tun, ist nicht messbar oder greifbar, aber es bewegt etwas."
Mehr Informationen:
Kontakt zu der Organisation gibt es über die Website www.dein-sternenkind.eu