Während ihres Asylverfahrens wird Flüchtlingen ein Wohnort zugewiesen. Nach ihrer Anerkennung durften sie bislang hinziehen, wo sie wollten. Das ist nun anders. Foto: dpa

Dass die neue Wohnsitzauflage auch rückwirkend gibt, sorgt für Ärger. Stuttgart schickt die Altfälle nicht weg, und wahrscheinlich wird dies bundesweite Praxis werden.

Stuttgart - Petra Alger, Sozialdezernentin des Landkreises Biberach, staunte nicht schlecht: Plötzlich standen da wieder Flüchtlinge mit gepackten Koffern da, die vor Monaten nach Nordrhein-Westfalen weitergezogen waren. Dort hatte man die Zahlung von Sozialleistungen erst hinausgezögert und schließlich komplett verweigert – unter Hinweis auf das neue Integrationsgesetz des Bundes, das seit 6. August gilt und unter anderem eine bundesweite Wohnsitzauflage enthält: Anerkannte Asylbewerber dürfen demnach, was ihren Wohnsitz angeht, nicht mehr das Bundesland wechseln. So will man eine gerechtere Verteilung der Lasten erreichen.

Rückwirkung ist auch rechtlich fragwürdig

Das Problem ist: Die Auflage gilt auch rückwirkend, und zwar von 1.1. 2016 an. Das ist nicht nur rechtlich fragwürdig, sondern auch schwer praktikabel. Wer schon Monate in einem Ort lebt, hat sich immer auch schon ein bisschen integriert – was laut Gesetz wiederum bei der Frage berücksichtigt werden soll, ob ein Flüchtling wirklich wieder weggeschickt werden soll. „Da beißt sich die Katze in den Schwanz“, sagt ein Beamter.

Stuttgart schickt Altfälle nicht weg

In Stuttgart hat man entschieden, dem ganzen Ärger aus dem Weg zu gehen. „Wir haben beschlossen, das nicht rückwirkend zu machen“, sagt Sozialbürgermeister Werner Wölfle. Und meint damit sowohl die bundesweite Wohnsitzauflage als auch die landesweite, die eine gerechtere Verteilung zwischen den Kommunen im Land sicherstellen soll und seit Anfang der Woche gilt.

Die Auflage sorgt für noch mehr Bürokratie

Rückwirkend einzugreifen, sagt Wölfle, wäre „zu kompliziert und auch eine Zumutung für die betroffenen Flüchtlinge“. Außerdem haben die Städte genug damit zu tun, die Wohnsitzauflage von jetzt an umzusetzen. „Jeder, der für eine Wohnsitzauflage in Frage kommt, muss vorher angehört werden“, sagt Wölfle. „Das bedeutet viel Arbeit.“

Chaos im Ruhrgebiet

Stuttgart ist allerdings auch in einer angenehmeren Situation als Städte im Ruhrgebiet, die großteils hoch verschuldet sind und in die zugleich relativ viele Flüchtlinge nach ihrer Anerkennung strömen. Zum Teil kommen sie aus Ostdeutschland, zum Teil aus Bayern, wo die Kommunen den Flüchtlingen angeblich gesagt haben, dass es im Ruhrgebiet Wohnungen und auch Arbeit gebe.

Die Stadtverwaltungen in Essen und Gelsenkirchen sind darüber ziemlich sauer. Tausende anerkannte Flüchtlinge sind seit Jahresbeginn dort zugezogen. Am liebsten würden die Städte sie alle wieder zurück schicken, aber die Flüchtlingshelfer protestieren, und die Rechtslage ist nicht eindeutig. Die Presse vor Ort spricht von „Chaos“.

Baden-Württemberg stellt Altfälle zurück

Um das bundesweite Chaos nicht noch zu vergrößern, hat das baden-württembergische Innenministerium die Kommunen im Land gebeten, diese „Altfälle“ zurück zu stellen und auf das Ergebnis eines Bund-Länder-Gesprächs zu warten, das am kommenden Dienstag in Berlin stattfinden soll. Dem Vernehmen nach treffen sich dort die Amts- oder Abteilungsleiter der Innenministerien, um sich auf eine einheitliche Behördenpraxis zu einigen. Vermutlich werde es darauf hinauslaufen, dass man die Kommunen bitten werde, die Altfälle nicht wegzuschicken und sich auf die Fälle ab 6. August zu konzentrieren, heißt es Womöglich gibt es auch Hilfszahlungen für die besonders belasteten Städte im Ruhrgebiet.

Hintergrund des Gerangels sind die Kosten, die an jeder Kommune hängenbleiben. Trotz zum Teil kräftiger Unterstützung durch den Bund sind dies allein für Unterkunft und Betreuung laut Landkreistag rund 5000 Euro pro Jahr und Kopf.

Stuttgart warnt vor einem „Teufelskreis“

Die Wohnsitzauflage soll unter anderem verhindern, dass anerkannte Asylbewerber in die Städte strömen, wo der Wohnraum ohnehin knapp ist. „ Das Prinzip ist richtig und wird von uns auch unterstützt“, sagt dazu Stuttgarts Sozialbürgermeister Wölfle.

„Zu meiner Verantwortung als Bürgermeister gehört allerdings auch, darauf zu achten, dass die Leute nicht in einen Teufelskreis geraten“, sagt er. Man kriege eine Arbeitsstelle oder einen Ausbildungsplatz oft nur, wenn man eine Wohnung habe. Die Wohnung allerdings gibt es nach der neuen Wohnsitzauflage künftig nur noch, wenn man Arbeit hat. „Eine solche Auflage sollte eine Arbeitsaufnahme nicht verhindern“, sagt Wölfle.“Wir haben ja Bedarf an Arbeitskräften und an Auszubildenden.“