Mit diesem Werkzeug aus Mammutelfenbein stellten die frühen Bewohner der Schwäbischen Alb Schnüre und Seile her. Foto: Kevin Trimmer/Getty Images; Conard et al, Sci. Adv. 10, eadh5217 (2/24)

Die Karsthöhle Hohle Fels auf der Schwäbischen Alb ist einer der bedeutendsten archäologischen Fundplätze der Altsteinzeit. Dort wurde auch ein weltweit bisher einmaliges Werkzeug zur Herstellung von Seilen und Schnüren gefunden. Archäologen haben es jetzt genauer untersucht.

Fünf Meter Seil in zehn Minuten: Zwei in der Schwäbischen Alb entdeckte Lochstäbe sind weltweit einzigartig und dienten vor mindestens rund 35 000 Jahren vermutlich zur Herstellung von Seilen. Das berichten der Archäologe Nicholas Conard von der Universität Tübingen und Veerle Rots von der Universität Lüttich nach entsprechenden Experimenten im Fachblatt „Science Advances“.

2015 in Karsthöhle Hohle Fels entdeckt

Die Seile wurden aus Blättern von Rohrkolben hergestellt, einer Pflanze, die schon in der Steinzeit im Achtal wuchs. Foto: Kevin Trimmer/Getty Images; Conard et al, Sci. Adv. 10, eadh5217 (2024)
Das Werkzeug an der Fundstelle im Hohle Fels: In einem Umkreis von wenigen dutzend Zentimetern wurden hier in mehreren Meter Tiefe die bedeutendsten archäologischen Funde aus dem Aurignacien, der letzten Periode der europäischen Altsteinzeit vor 43 500 bis 31 000 Jahren. Foto: H/. Jensen, University of Tübingen.)
Die sogenannte stratigraphische Lage des Seilherstellungsgeräts vom Hohle Fels: Im hinteren rechten Bereich der Höhlenhalle (bunt markierte Sterne) haben die Archäologen das steinzeitliche Werkzeug und die Venus vom Hohle in mehr als drei Meter tiefe gefunden. Foto: A. Janas, University of Tübingen

Paläontologen um Nicolas Conard hatten im Jahr 2015 in der Karsthöhle Hohle Fels im Achtal im baden-württembergischen Alb-Donau-Kreis Bruchstücke eines Lochstabs aus Mammut-Elfenbein entdeckt. Dieses Werkzeug aus dem Hohle Fels hat die Jahrtausende fast unversehrt überdauert, tief vergraben im lehmigen Boden der eiszeitlichen Höhle.

Das Werkzeug lag nur wenige Zentimeter von der Stelle entfernt, an der im September 2008 etwa 20 Meter vom Höhleneingang entfernt in der großen Halle die legendäre Venus vom Hohle Fels – sechs Bruchstücke aus bearbeitetem Elfenbein – aus der jungpaläolithischen Kultur des Aurignacien gefunden wurde.

Mammutelfenbein für einen Gebrauchsartikel

Detailaufnahme: Die Löcher sind sorgfältig ausgearbeitet und mit jeweils sechs Riefen oder Kerben versehen. Foto: H. Jensen, University of Tübingen

Das Artefakt ist das älteste je gefundene Spezialwerkzeug zur Herstellung von Seilen. Allein schon das Material aus Mammutelfenbein ist ungewöhnlich, wurden solche Objekte doch fast immer aus Geweihen von Rentieren und Hirschen gefertigt. Besonders ungewöhnlich ist jedoch der Umstand, dass der Lochstab vier Löcher enthält – an anderen Fundorten Europas sind es meist ein oder maximal zwei Löcher.

In den 1970er Jahren wurde in der zwei Kilometer vom Hohlefels entfernt gelegenen Höhle Geißenklösterle – einer Karsthöhle südlich von Weiler, einen Ortsteil von Blaubeuren im Alb-Donau-Kreis – bereits ein ähnliches Teil gefunden, allerdings sehr stark verwittert und abgenutzt.

Alltagesgegentand der Steinzeitmenschen

Unter dem Mikroskop zeigte sich, wie die Löcher eingekerbt wurden, auch fanden sich Pflanzenreste (oben rechts). Foto: (A): H. Jensen, University of Tübingen; (B) and (C): D. Cnuts, University of Liège; (D) to (K); V. Rots, University of Liège

Der Hohle-Fels-Lochstab ist 35 000 bis 40 000 Jahre alt, gut 20 Zentimeter lang, mehr als drei Zentimeter breit und 1,5 Zentimeter dick. Die vier Löcher mit einem Durchmesser von sieben bis neun Millimetern sind spiralförmig eingekerbt.

Im Gegensatz zur berühmten Venus vom Hohle Fels oder dem Löwenmenschen aus der Vogelherd-Höhle handelt es sich bei dem Seilwerkzeug nicht um ein Schmuckstück oder ein rituelles Artefakt, sondern um einen Alltagsgegenstand, der den Menschen der Steinzeit das Leben erheblich erleichtert haben muss.

Mechanisierte Produktion von Seilen

Durch die mechanisierte Produktion konnten sie so viele Seile herstellen, wie sie benötigten. Foto: H. Jensen, University of Tübingen

Zwar konnten die frühen nomadischen Bewohner der Alb auch Lianen von Bäumen als Seile und Taue für den Transport oder die Jagd verwenden. Doch Bäume waren in der öden Tundra und Mammutsteppe der Altsteinzeit rar. Durch die mechanisierte Produktion konnten sie so viele Seile herstellen, wie sie benötigten.

Daraus leiten Conard und Rots Rückschlüsse zur bisher rätselhaften Funktion der beiden besonderen Lochstäbe ab. Bislang hielten Fachleute sie für Machtsymbole oder Kunstobjekte, ein praktischer Wert wurde ihnen allenfalls als Hebel zugesprochen – ähnlich dem Flaschenöffner-Prinzip.

Rohrkolben als Fasermaterial

Der vergitterte Eingang zur Hohle Fels Höhle, ein Kilometer vom Stadtkern von Schelklingen im Alb-Donau-Kreis entfernt. Nachdem man das steinerne Tor und deinen 15 Meter langen Gang durchschritten hat, gelangt man in die Höhlenhalle. Mit 500 Quadratmeter Grundfläche und einem Rauminhalt von 6000 Kubikmetern ist sie eine der größten Karsthöhlen in ganz Süddeutschland. Foto: Universität Tübingen

Conard und Rots berichten nun nach praktischen Versuchen, dass sich die vierlöchrigen Objekte gut zur Herstellung von Seilen eignen – insbesondere aus Blättern von Rohrkolben (Typha), einer Pflanzengruppe, die damals vermutlich schon im Achtal wuchs. Bei entsprechenden Versuchen konnten vier bis fünf Menschen aus Rohrkolbenblättern binnen zehn Minuten bis zu fünf Meter Seil herstellen, das etwa fingerdick ist. Dazu werden die bereits verdrehten Blätter durch die Löcher gezogen und der daraus resultierende Strang noch mal verdreht.

„Das widerlegt nicht, dass Lochstäbe eine symbolische Bedeutung haben konnten“, sagte Conard. „Aber es belegt, dass sie durchaus auch einen praktischen Wert als Werkzeug hatten.“ Der Experte verweist auf die beachtlichen technischen Fertigkeiten der damaligen Menschen.

Ohne Seile kein zivilisatorischer Fortschritt

Zu ihren Erzeugnissen zählten sowohl Schmuck als auch Kunstobjekte und genau in den beiden Höhlen der Schwäbischen Alb wurden auch rund 40 000 Jahre alte Flöten aus Elfenbein und Vogelknochen entdeckt – die weltweit ältesten Musikinstrumente.

„Jeder, der heutzutage zeltet, jagt oder sammelt, weiß, dass Seile und Schnüre für zahllose praktische Zwecke nützlich sind“, schreiben Conard und Rots. „Ohne Seil, Schnur oder Lederstreifen wäre das Leben in der Steinzeit schwierig gewesen.“

Info; Hohle Fels

Weltkulturerbe
Unweit von Schelklingen liegt der berühmte Hohle Fels. Unter dem Titel „Höhlen und Eiszeitkunst der Schwäbischen Alb“ wurden 2017 sechs Höhlen, darunter der Hohle Fels, und die sie umgebende Landschaft im Ach- und Lonetal in die Unesco-Welterbeliste eingetragen.

Hohle Fels
Die Karsthöhle, die aus einem 15 Meter langen Gang und einer 500 Quadratmeter großen Halle besteht, ist neben der Vogelherd Höhle (Niederstotzingen), dem Hohlenstein-Stadel (Asselfingen) und dem Geisßenklöstele (Blaubeuren) einer der wichtigsten Fundplätze der Jungsteinzeit (Jungpaläolithikum) in Mitteleuropa.

Erforschung
Seit der Töpfer Karl Friedrich Rixinger im Jahr 1830 im Hohle Fels beim Graben nach Lehm und Ton durch Zufall auf die Knochen eines Höhlebären stieß, ist die Alb-Höhle eine Parade-Grabungsstätte für Archäologen. Erste Grabungen der beiden Pfarrer und Naturforscher Oscar Fraas und Josef Hartmann brachten 1870/71 Knochenreste von Höhlenbären, Rentieren, Mammuts und Wildpferden zutage. 1958 bis 1960 wurde abermals gegraben – von dem Prähistoriker Johannes Gustav Riek. Ab 1977 folgte dann die systematische millimeterweise Erkundung des Erdreiches in der Höhle durch das baden-württembergische Landesamt für Denkmalpflege, erst unter Joachim Hahn und seit 1997 unter Nicholas Conard.