Seit Jahresbeginn registriert das Migrationsamt des Kreises immer mehr Flüchtlinge mit druckfrischen ukrainischen Pässen, die aber weder Ukrainisch noch Russisch sondern nur Ungarisch sprechen. Foto: Marcin Bielecki

Sie tragen neue ukrainische Pässe bei sich, sprechen aber kein Ukrainisch oder Russisch: Derzeit kommen vermehrt Großfamilien aus Transkarpatien in die Ortenau – und beziehen Bürgergeld. Der Kreis vermutet Betrug, kann vorerst jedoch nichts nachweisen.

Es sollen meist kinderreiche Roma-Familien aus der zur Ukraine gehörenden Region Transkarpatien sein, die die Kreisverwaltung derzeit vor „große Herausforderungen“ stellen. Das berichtet die für Migration zuständige Dezernentin Alexandra Roth im Gespräch mit unserer Redaktion. Rund 150 Menschen seien seit dem Jahreswechsel mit ukrainischen Pässen aus der Grenzregion zu Ungarn in die Ortenau gekommen – laut Roth werden es zunehmend mehr.

 

„Sie sind ein verschwindend geringer Anteil, derer die im Rahmen der Massenzustrom-Richtlinie aus der Ukraine zu uns kommen“, betont die Dezernentin. Rund 6500 Ukrainer hielten sich insgesamt im Kreis auf. Allerdings hätten die Behörden mit den Familienverbänden aus Transkarpatien „sehr viel Arbeit“. Zum einen sei deren „rechtliche Einordnung“ schwierig, zum anderen sei ihr Betreuungsbedarf hoch.

Wie alle Flüchtlinge aus der Ukraine beziehen die Großfamilien aus Transkarpatien direkt Bürgergeld und nicht Asylbewerberleistungen, die geringer ausfallen. Eventuell haben sie jedoch gar keinen Anspruch: „Sie verschweigen uns ihre doppelte Staatsbürgerschaft und dass sie auch Ungarn sind“, vermutet Roth. Als ungarische Staatsbürger dürften sie sich zwar frei in der EU bewegen, in Deutschland jedoch gar kein Bürgergeld bekommen.

Betroffene kommen mit „nagelneuen ukrainischen Pässen“

Aufgefallen ist der mutmaßliche Betrug, weil betreffende Menschen im Migrationsamt „nagelneue ukrainische Pässe“ vorlegten, jedoch nur Ungarisch sprachen. Eine Anfrage an das ungarische Konsulat sei bisher unbeantwortet geblieben. „Ich denke, die werden von sehr vielen Kreisen Anfragen bekommen“, konstatiert Roth.

Doch auch unabhängig ihres rechtlichen Status halten die Menschen aus Transkarpatien die Behörden auf Trab. „Die großen Familien sind sehr herausfordernd für unsere Sozialarbeiter“, berichtet Roth. Sehr viele – auch Erwachsene – seien Analphabeten, die meisten Kinder wären bisher nie zur Schule gegangen. Viele Familien brauchten Unterstützung in ganz grundlegenden Dingen.

Der weitaus größte Teil der Familien befinde sich in der von den Städten und Gemeinden zu stellenden Anschlussunterbringung. Dort scheint es immer wieder zu Problemen zu kommen: In Achern hatten sich Nachbarn über Lärm, Zerstörung und Diebstähle beschwert. Auch aus anderen Städten und Gemeinden – die Familien sind auf zehn Kommunen verteilt – würden sich Beschwerden häufen, so Roth.

Lebensumstände in der Heimat katastrophal

Dass die Menschen aus Transkarpatien nach Deutschland kommen und mutmaßlichen Sozialbetrug riskieren, hängt wohl mit deren Lebensumständen in ihrer Heimat zusammen. Diese beschreibt Slavica Husseini vom Verband Deutscher Sinti und Roma in Karlsruhe als katastrophal – auch schon vor dem Krieg. „Die ukrainische Roma werden ganz stark diskriminiert“, erklärt sie im Gespräch mit unserer Redaktion. „Man möchte sie nicht in der Nähe der Mehrheitsbevölkerung haben.“

Die Familien müssten abseits der Städte und Gemeinden leben, häufig in Behelfsunterkünften. „Es sind regelrechte Hütten, zum Teil ohne Elektrizität oder fließend Wasser“, so die Referentin. Die Schulwege seien lang, medizinische Versorgung oft nicht vorhanden. In einigen Gegenden akzeptierten Schulen nicht mehr als fünf Roma-Schüler gleichzeitig. „Die Familien leben vom Betteln, vom Musik machen und vom Sammeln und Recyceln von Metall oder Flaschen“, schildert Huiseini.

Bundesinnenministerium soll sich kümmern

Dass die Familien das Versprechen auf Bürgergeld nach Deutschland zieht, wie die Migrationsdezernentin vermutet, scheint naheliegend. Verdachtsfälle werden laut Roth zwischenzeitlich beim Regierungspräsidium Karlsruhe gemeldet. Mit Unterstützung des Bundesinnenministeriums wollen die Behörden an die von Ungarn benötigten Daten kommen – bisher ohne Erfolg.

Das Ortenauer Migrationsamt hat sich zwischenzeitlich etwas anderes einfallen lassen: Es fordert sogenannte Negativbescheinigungen von Menschen, die in Verdacht stehen, ungarische Staatsbürger zu sein. „Sie müssen zunächst beim ungarischen Konsulat vorsprechen, so lange erhalten sie keine Aufenthaltserlaubnis und kein Bürgergeld“, erklärt Roth. Das scheint Früchte zu tragen: Familien seien bei der Ankündigung der Überprüfung bereits weitergezogen.

Transkarpatien

Die sogenannte Karpatenukraine hat eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Lange gehörte sie als Teil Ungarns zur Donau-Monarchie der Habsburger. Nach dem ersten Weltkrieg und des Zerfalls des von Wien und Budapest aus regierten Vielvölkerstaats wurde Transkarpatien der Tschechoslowakei zugeschlagen. Nach weiterem Hin und Her ging die Karpatenukraine im Nachgang des zweiten Weltkriegs an die Sowjet-Union.