Beim Warnstreik vor den Toren der Firma Zehnder in Lahr haben Mitarbeiter erst am gestrigen Freitag ihrem Unmut Luft gemacht (siehe Info). Foto: Baublies Foto: Schwarzwälder Bote

Streik: Ortenauer IG-Metall-Chef spricht über Herausforderungen für Gewerkschaft / Mitglieder gewinnen

Ortenau. Ahmet Karademir ist Erster Bevollmächtigter der IG Metall Offenburg und leitet seit knapp zehn Jahren die dortige Geschäftsstelle von Deutschlands mitgliederstärkster Gewerkschaft. In der Ortenau hat sie 13 500 Mitglieder. Der 48-Jährige ist erprobt in Arbeits- und Warnstreiks. Unsere Redaktion sprach mit ihm über seine Leidenschaft, das Wesen eines Gewerkschaftlers und die Zukunft der Gewerkschaft.

Herr Karademir, sind Sie eigentlich erschöpft nach den vielen Tagen Arbeitskampfbegleitung?

Es ist eine positive Erschöpfung. So etwa wie nach dem Training im Fitnessstudio. Aber klar, es schlaucht mich schon körperlich. Aber vielleicht liegt es auch an meinem Alter.

Welche Tugenden braucht ein Gewerkschaftler wie Sie?

Was wichtig ist, ist Authentizität. Man muss überzeugen können und muss auch menschlich sein. Und Durchhaltevermögen braucht man unbedingt!

Wie geht es weiter im Tarifstreit zwischen der IG Metall und der Arbeitgeberseite?

Die kommende Verhandlung ist für den 24. Januar in Böblingen terminiert. Das wird eine der finalen Möglichkeiten sein. Sollte es zu keiner Einigung kommen, entscheidet nach der "großen Tarifkommission" am 25. Januar der Gesamtvorstand über nächste Schritte. Klar ist: Wir werden keinen Streik inszenieren. Aber: Wenn es sein muss, dann streiken wir.

Wieso ist es gerade heute so wichtig, für flexible Arbeitszeiten zu kämpfen?

Wir haben mehr als 600 000 Beschäftigte in der Branche befragt. Flexible Arbeitszeiten sind eines der zentralen Bedürfnisse der heutigen Arbeitnehmer. Viele Menschen schätzen nicht mehr so sehr ein großes Büro, ihren Status und viel Geld, sondern mehr Freizeit und eine bessere Vereinbarung von Familie und Beruf. Exemplarisch dafür steht die Generation Y.

Viele Gewerkschaften erhoffen sich von dem Ausgang der Tarifverhandlungen eine Signalwirkung für andere Branchen. Sehen Sie die IG Metall in einer Vorreiterrolle?

Da hilft ein Blick in die Geschichtskiste. Die 35 Stundenwoche, bessere Arbeitnehmerrechte und die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall sind wichtige Errungenschaften von Gewerkschaften. Für die Lohnfortzahlung haben schon vor 60 Jahren Kolleginnen und Kollegen in Schleswig-Holstein 16 Wochen gestreikt.

Früher ein ganz wichtiger Player – heute ist nur noch jeder fünfte Arbeitnehmer in einer Gewerkschaft organisiert. Warum ist das so?

Wir sind als IG Metall wesentlich besser aufgestellt und haben schon viel mehr erreicht als andere Gewerkschaften. Die IG Metall hat knapp 2,3 Millionen Mitglieder, gerade in Baden-Württemberg sind wir stark. Allein in der Ortenau haben wir 13 500 Mitglieder. Wir können uns nicht beschweren. Andere Gewerkschaften haben es da viel schwerer. Dennoch müssen auch wir viel tun, um Mitglieder zu halten und zu gewinnen. Die Zeiten sind leider längst vorbei, als mit dem Eintritt in einen Betrieb auch der Beitritt in die IG Metall einherging.

Und wie entgegnen Sie konkret diesem "Gewerkschaftsrückgang"?

Beispielsweise mit unserem GEP. Das "Gemeinsame Erschließungsprogramm" ist ein 190 Millionen Euro schweres Projekt, für die nächsten Jahre der IG Metall, um neue Betriebe gewerkschaftlich zu erschließen und in die Tarifbindung zu führen.

Wie muss eine zukunftsorientierte Gewerkschaft heutzutage ausgestattet sein?

Der Schlüssel zum Erfolg ist eine Präsenz in der Fläche, unterstützt durch engagierte ehrenamtliche Kollegen.

Die SPD macht es wohl wieder mit der Union: Wie beurteilen Sie die Große Koalition aus Sicht der IG Metall? Mehr Fluch als Segen?

Als Einheitsgewerkschaft sind wir unabhängig und überparteilich. Diesen Kompromiss zwischen SPD und CDU/CSU nehme ich nicht begeistert auf, aber er ist besser als Neuwahlen. Denn dann würden extreme Parteien weiter erstarken. Wir werden die "Groko" mit unseren Themen konfrontieren.

Früher waren die Fronten klarer bei Gewerkschaften und Parteien. Zeit für neue Wege: Würden Sie selbst mit FDP- oder AfD-Politikern reden?

Außer mit der AfD rede ich mit allen Volksparteien. Früher, zu Guido Westerwelles Zeiten, waren die Fronten mit der FDP verhärtet. Das hat sich hoffentlich geändert. Mit der FDP rede ich, aber ich stimme inhaltlich natürlich nicht mit ihr überein. Eine Partei, die nicht anerkennt, dass Eigentum verpflichtet und dass ein Unternehmer immer noch eine soziale und gesellschaftliche Verantwortung für seine Belegschaft hat, verkennt Realitäten. Fragen: David Bieber

Die IG Metall hat am Freitag den zweiten Warnstreik in dieser Woche in Lahr organisiert. Ungewöhnlich an der Kundgebung bei der Firma Zehnder war, dass mit Prokurist Klemens Ganter ein Vertreter der Arbeitgeber zu Wort kam und ruhig angehört wurde. Eine betriebliche Einigung über Arbeitszeitmodelle ist hier verhandelt worden. Die Regel in der Tarifrunde ist aber: Solange in der Fläche über einen Tarif gerungen wird, stehen betriebliche Abschlüsse hintenan. Ganter erklärte, dass man an langfristigen Lösungen interessiert sei. Zu den Forderungen nach einer befristeten Arbeitszeitverkürzung sagte er, dass Geld und Zeit ein wichtiger Faktor für die Lebensqualität der Arbeitnehmer sei. Für die Arbeitgeber gelte dazu die Komponente der Wettbewerbsfähigkeit samt Belastungen und Kosten. Ahmet Karademir, Erster Bevollmächtigter der IG Metall Offenburg, hatte zuvor erneut die Forderungen der Arbeitnehmer vorgestellt (unter anderem eine Lohnsteigerung um sechs Prozent und Arbeitszeitverkürzungen). Der Gewerkschafter bat die sicher deutlich mehr als 100 Teilnehmer des Streiks aber auch, den Vertreter der Arbeitgeber in Ruhe anzuhören. bau