Guido Schöneboom, hier in seinem Büro im Rathaus, leitet als Erster Bürgermeister das Kultur- und Sozialdezernat der Stadt. Foto: Schabel

Tag der Deutschen Einheit: Lahrs Erster Bürgermeister spricht über die DDR und den Fall der Mauer

Lahr - Seit 30 Jahren sind Ost- und Westdeutschland wieder vereint. Guido Schöneboom, Lahrs Erster Bürgermeister, war DDR-Bürger. Wir haben mit ihm darüber gesprochen, wie er die Wende erlebt hat und wie er heute über die Wiedervereinigung denkt.

Herr Schöneboom, wo waren Sie, als die Mauer fiel?

Da saß ich mit meiner Frau fassungslos vor dem Fernseher und habe das eigentlich nicht richtig sortieren können. Ich war sehr überrascht, mit welcher gigantischen Geschwindigkeit sich das vollzogen hatte.

Hatten Sie gespürt, dass es dazu kommen würde?

Nein. Dass die DDR in großen Schwierigkeiten steckt, war ja im Alltag klar. Aber dass ein Land innerhalb kürzester Zeit von der Landkarte verschwindet – ich weiß nicht, wie viele Leute die hellseherischen Fähigkeiten hatten, um das vorherzusagen.

Sie waren 24 Jahre alt, als die Mauer fiel. Erzählen Sie bitte von Ihrem Leben damals.

Ich habe ein sehr normales Leben geführt, in Markkleeberg, einer Stadt südlich von Leipzig. Meine Frau war Lehrerin, ich war Lehrer, wir hatten eine kleine Familie, die Kinder sind 1986 und 1987 geboren. Ich habe aktiv Handball gespielt, hatte einen großen Freundeskreis und einen gebrauchten Trabant, auf den ich sehr stolz war.

Haben Sie damals in Leipzig gegen das DDR-Regime demonstriert?

Ja, klar. Bei der ersten ganz großen Demonstration am 9. Oktober ist meine Frau gegangen und ich bin zuhause geblieben, um auf unsere Kinder aufzupassen. Am 16. Oktober war es dann umgekehrt. Wir wollten ein Zeichen setzen, uns ging es vorrangig um das Reformieren der DDR.

Hatten Sie Angst?

Auf dem Platz des Himmlischen Friedens, mitten in der chinesischen Hauptstadt, sind wenige Monate zuvor Menschen von Panzern überrollt worden. Ich will nicht sagen, dass ich große Angst hatte, aber ich weiß noch, dass es in den ersten Minuten auf der Demonstration ein ganz beklemmendes Gefühl gewesen ist.

Man hat nach links geschaut und nach rechts geschaut, man hat überlegt, wirst du gesehen, musst du dich morgen rechtfertigen, dass du an einer Demonstration teilgenommen hast. Mein Vater war in seinem Betrieb in der Kampfgruppe und unter Waffen gestellt.

Wir hatten gehört, dass um Leipzig die Nationale Volksarmee zusammengezogen wird. Es waren gezielt Gerüchte kolportiert worden, dass Lagerhallen freigehalten werden, um dort Verhaftete zuzuführen, und dass in den Polikliniken ganze Etagen frei seien, um möglicherweise Verletzte zu versorgen.

Nach dem Fall der Mauer am 9. November 1989: Wie lange hat es gedauert, bis Sie in den Westen gefahren sind?

Zwei Tage. Meine Frau, ein guter Freund und ich sind am 11., einem Samstag, mit dem Trabant losgefahren – nach der Schule, ich hatte Unterricht bis dreiviertelzwölf. Wir haben damals fast vor leeren Klassen unterrichtet, weil alle schon weg waren, sich den Westen anschauen. Die meisten fuhren nach Bayern, wir sind nach West-Berlin.

Wie war’s?

Wahnsinnig bunt, fremde Gerüche, Menschen aller Couleur, natürlich viele Ostdeutsche. Man erkannte sich an den Friseuren und der Kleidung. Ich war ein bisschen irritiert vom Verhalten einiger meiner Landsleute, die sich wie Bittsteller aufreihten, um Coca-Cola und Kaffee zu ergattern, um es dann in Plastiktüten zu stecken. Das hat mich befremdet. Wir sind zu dritt über den Kurfürstendamm und haben alles aufgesogen. Sehr nette Westdeutsche haben uns zum Griechen eingeladen – mein erster Grieche.

Was haben Sie sich gekauft?

Grünweiße Gummifrösche für zwei D-Mark. Und wir waren im Kino und haben uns "Der Exorzist" angesehen. Wir wollten dann im Trabant übernachten, zu dritt, aber es war kalt, und so hat es nicht lange gedauert, bis wir nachts gegen 2 oder 3 Uhr zurückgefahren sind. Dabei ist der Motor kaputtgegangen, ich musste abgeschleppt werden. Den 11. und 12. November 1989 werde ich nie vergessen.

Wohin hat Sie Ihre erste Auslandsreise geführt?

Im Dezember 1989 nach Bremen (lacht). 1991 sind wir mit dem Auto nach Metz gefahren, zu einer Freundin meiner Frau.

Hätten Sie 1989 gedacht, dass es mit der DDR so schnell zu Ende geht?

Nein. Vielen, mit denen ich Kontakt hatte, ging es nicht darum, die DDR abzuschaffen, sondern darum, sie zu reformieren, ein demokratisches Parteiensystem zu installieren, Fragen zu beantworten, die uns bewegten. Zum Beispiel Reisefreiheit und Konsumgüter im Vergleich zur Bundesrepublik.

Der 3. Oktober 1990, die Wiedervereinigung. Haben Sie damals gefeiert?

Nach 1945 war es zu einer unnatürlichen Teilung gekommen. Dass man dann in die Lage versetzt wurde, das zu überwinden und als geschichtsbewusster Mensch zu erkennen, was das für eine gewaltige Leistung ist: Na klar hat mich das gefreut. Am 3. Oktober 1990 haben wir die Wiedervereinigung auf einem Volksfest in Markkleeberg gefeiert. Die Erwartungen waren ja riesengroß: Reisefreiheit, die D-Mark, Helmut Kohls ›blühende Landschaften‹. Es ging ja auch darum, die Lebenssituation der eigenen Familie zu verbessern.

Gibt es etwas aus der DDR, dem Sie nachtrauern?

Einige Dinge aus der DDR finden sich in der Bundesrepublik wieder, das erlebe ich als spannend. Wenn wir über Polikliniken reden, also Ärztehäuser, gesetzliche Ansprüche für Kitaplätze, Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder Gleichberechtigung von Frauen. Das sind Dinge, die in der DDR schon an der Tagesordnung waren. Dass die nach langer Zeit auch im Westen angekommen sind und akzeptiert werden, erfüllt mich mit Zufriedenheit. Den Zusammenhalt, die gegenseitige Unterstützung im Freundeskreis in der DDR – das habe ich schon damals als intensiver empfunden.

Gibt es Ihrem Leben Platz für DDR-Nostalgie?

Einen Ostalgieschrein habe ich nicht zuhause, aber Utensilien, die mich an damals erinnern. Ich habe ja auch heute noch meinen DDR-Führerschein.

Haben Sie sich jemals über Besserwessis geärgert?

Ja, klar, teilweise gibt es dieses Denken heute noch. Dass man aus dieser Sicherheit, in einem demokratischen Land aufgewachsen zu sein, anderen Ratschläge gibt, ohne sich damit auseinanderzusetzen, wie die Lebenssituation im Osten war. Mich ärgert auch, dass heute noch viele im Südwesten von denen ›da oben‹ im Osten reden, und dass sie noch nie –nach 30 Jahren! – dort waren. Ich lebe gern im Südwesten, hier ist meine Wahlheimat.

Ich weiß, dass man von hier aus schneller in Italien am Mittelmeer als an der Ostsee ist. Trotzdem finde ich es erstaunlich, wie diese 40 Jahre Teilung, die in der Geschichte ja nicht Mal ein Fingerschnipsen sind, zu teilweise ganz unterschiedlichen Bewertungen führen. Mich ärgert auch, dass die Lebensleistung der älteren Generation in der DDR mitunter nicht so wertgeschätzt wird, wie es die Generation meiner Eltern verdient hätte.

Was wäre aus Guido Schöneboom geworden, wenn die Mauer heute noch stehen würde?

Guido Schöneboom wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit gerne Lehrer geblieben, hätte vielleicht darüber nachgedacht, stellvertretender Schulleiter oder Schulleiter zu werden. Aber das ist sehr hypothetisch. Wenn mir 1990 aber einer gesagt hätte, dass ich Mal Bürgermeister im Südwesten werde, hätte ich ihn für verrückt erklärt (lacht).  Fragen: Herbert Schabel

Veranstaltung zum Tag der Deutschen Einheit 

Lahr bietet eine Veranstaltung zum Jahrestag der Einheit. "Gundermanns Seilschaft", Musiker, die mit dem in der DDR populären Liedermacher Gerhard Gundermann spielten, sind zu Gast in Lahr. Das Konzert geht am 3. Oktober ab 19.30 Uhr im Schlachthof über die Bühne. Besucher müssen sich mit ihren Kontaktdaten bei der Stadt anmelden, E-Mail-Adresse birgit.koenig@lahr.de.