"Dort, wo das Evangelium richtig gelebt und verkündet wird, hat es immer einen politischen Bezug", findet Steffen Reiche. Der Pfarrer wird morgen in Hausach mitdiskutieren. Foto: privat Foto: Schwarzwälder-Bote

Pfarrer Steffen Reiche beteiligt sich an Debatte in Hausach / Kirche mischt sich in Politik ein

"Von der Freiheit sich einzumischen in die Gesellschaft und die Politik" lautet ein Podiumsgespräch in Hausach mit Pfarrer Michael Uhl und Steffen Reiche aus Berlin. Im Vorfeld der Veranstaltung unterhielten wir uns mit dem Pfarrer und Politiker aus der Bundeshauptstadt.

Hausach. Die Frage, ob sich die Kirche in Politik und Gesellschaft einmischen soll, beantwortet Reiche eindeutig: "Dort, wo das Evangelium richtig gelebt und verkündet wird, hat es immer einen politischen Bezug. Christus wollte sicherlich nicht politisch wirken, aber sein Handeln hatte eine eminent wichtige politische Bedeutung."

Ähnlich sei es bei Luther. Auch er habe sicherlich keine politischen Absichten gehabt. "Aber mit der Reformation hat er eine Lawine ins Rollen gebracht und tief greifende Veränderungen bewirkt. Da fängt eben die Neuzeit an", spielt Reiche auf das Jahr 1517 an. Es sei die einzige Epoche, die an einem Zeitpunkt beginnt – eben am 31.10.1517.

Die Einmischung der Kirche in die Politik bedeutet nicht, so Reiche, die Gesetze zu machen oder Qualität von Wasserleitungen festzulegen. Das sei Sache der Politik. Aber die Kirche solle der Frage nachgehen, "woher wir kommen und wohin wir gehen". Genauer gesagt: "Sie soll die Zeit deuten und den großen Rahmen, in dem wir leben."

Spannend sind seine Aussagen über die Globalisierung. Jeder erlebe sie unterschiedlich. "Die einen sehen in ihr ein Werk des Teufels und wollen wieder zurück zum Nationalstaat, andere sagen, wir brauchen die Globalisierung, aber eine bessere, weil beispielsweise das Finanzsystem und durch anthropogenes Handeln auch das Klima massiv gefährdet sind", erläutert der dreifache Familienvater.

Auf den ersten Blick fällt Reiches Antwort auf die Frage, wann die Globalisierung begonnen hat, ein bisschen überraschend aus: "Das hängt nicht mit Marco Polo, Christoph Kolumbus oder Vasco da Gama zusammen. Die Globalisierung hat am Kreuz begonnen. Das ist das erste Ereignis der Welt, von dem die Christen, die Jesus nachfolgten, damals glaubten, dass es jeden Menschen in der Welt angeht und man es ihnen deshalb auch an allen Orten sagen muss. Seitdem wird es in die Welt getragen und überall werden Menschen in diese neue Freiheit hinein getauft."

Einen problematischen Umgang mit dem Islam(ismus) sieht Reiche als einen wichtigen Grund für das Erstarken der AfD. "Der Erfolg der Partei basiert hauptsächlich darauf, dass Kirche und Politik bei diesem Thema nicht glaubwürdig sind. Denn die Angst der Menschen nach Hunderten von Toten bei Anschlägen und Attentaten ist doch berechtigt und man muss dagegen genauso klar vorgehen wie gegen Rechtsradikalismus. Darüber muss man offen reden und nicht aus übertriebener ›political correctness‹ (Anm. d. Red: ›politische Korrektheit‹) die verständlichen Sorgen der Bürger einfach überhören", hebt der erfahrene Politiker hervor. "Und wir müssen darauf drängen, dass überall die universalen Menschenrechte gelten, also Menschen an allen Orten der Welt gleiche Rechte haben und diese auch vor Ort in gleicher Weise anerkannt werden", meint Reiche. Die Gesellschaft habe erkannt, dass Frauen gleichberechtigt sind, Menschen wegen ihrer Sexualität nicht verfolgt werden sollen, der Antisemitismus "vom Teufel kommt" und dahin führt sowie andere Konfessionen und Religionen nicht bekämpft oder beschimpft werden dürfen, führt der Pfarrer fort.

Bei Thema "Europäische Union" plädiert Reiche für "ein Mehr an Europa", eine Vertiefung der Beziehungen unter Beibehaltung der Nationalstaaten. "Es ging Deutschland noch nie so gut wie in Europa. Es gibt kein Zurück in die reine Nationalstaatlichkeit, wir müssen einfach noch besser vorwärts treten", lautet sein Appell. Als positives Beispiel benennt er den verstorbenen Bundeskanzler Helmut Kohl. Als konservativer Mensch sei er in dieser Angelegenheit sehr mutig und weit vorwärts gegangen. Er habe Nationalstaat und Europa immer als Einheit gedacht. "Heute geht sinnvoll nur noch beides zusammen", sagt Reiche.

An uns alle richtet der Pfarrer die Forderung, am morgigen Tag der deutschen Einheit nicht nur für das einige Deutschland dankbar zu sein, sondern auch für Europa zu werben. "Denn die Deutsche Einheit konnte nur in einem einigen Europa gelingen. Es tut gut mal die Fenster aufzumachen und frische Luft reinzulassen", findet der Berliner.

Seinen Gesprächspartner am Dienstag auf dem Podium, den Hausacher Pfarrer Hans-Michael Uhl, kennt Reiche seit dessen Besuch in Berlin. "Er hat hier sein Lutherprogramm gemacht und daraufhin haben wir ausgemacht: Du zu mir, ich zu Dir", erzählt der Vater dreier Töchter.

Den Südwesten hat Reiche – der ebenfalls seit mehreren Jahren Präsident des Berliner Leichtathletikverbands ist – schon mehrfach besucht. Er findet die Region aus drei Gründen gut: weil sie wahnsinnig schön ist, sie für die Kirche eine wichtige Impulsfunktion hatte und immer noch hat und dort viel von Deutschlands gutem Wein wächst.

Weitere Informationen: Steffen Reiche wird am morgigen Tag der deutschen Einheit in Hausach zu Gast sein. Im Rahmen der Reihe "Lichtblicke 2017" wird er auf Einladung der evangelischen Kirchgemeinden Hausach und Gutach ein Podiumsgespräch mit Pfarrer Hans-Michael Uhl führen. Das Thema lautet: "Von der Freiheit, sich einzumischen in die Gesellschaft und Politik". Die Veranstaltung findet ab 20 Uhr im Sitzungssaal des historischen Rathauses in Hausach statt. Der Eintritt ist frei.

INFO

Zur Person: Steffen Reiche

Steffen Reiche wurde am 27. Juni 1960 in Potsdam geboren. Nach dem Abitur 1979 begann Steffen Reiche ein Studium der evangelischen Theologie am Sprachenkonvikt Berlin, das er 1982/1983 unterbrach, um eine Lehre als Tischler zu machen. 1986 schloss er sein Theologiestudium ab und war von 1988 bis 1990 Pfarrer in Christinendorf. Reiche gehörte am 7. Oktober 1989 zu den Mitbegründern der Sozialdemokratischen Partei der DDR (SDP) und wurde sogleich Mitglied des Vorstands. Nach der Vereinigung der SDP mit der SPD war er bis Juli 2000 Landesvorsitzender der SPD Brandenburg. Von März 1990 bis zum Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990 war er Mitglied der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR . Von Oktober 1990 bis zur Niederlegung seines Mandats am 20. Oktober 2005 gehörte Reiche dem Landtag von Brandenburg an. Nach der Landtagswahl 1994 wurde Reiche am 11. Oktober als Minister für Wissenschaft, Forschung und Kultur in die von Ministerpräsident Manfred Stolpe geführte Landesregierung von Brandenburg berufen. Nach der Landtagswahl 1999 übernahm er am 29. September die Leitung des Ministeriums für Bildung, Jugend und Sport. Nach der Landtagswahl 2004 schied er aus dem Kabinett aus. Von 2005 bis 2009 war Reiche Mitglied des 16. Deutschen Bundestags und gehörte dort dem Vorstand der SPD-Bundestagsfraktion an. Nach dem Ausscheiden aus dem Bundestag arbeitete Reiche wieder als Pfarrer der evangelischen Epiphaniengemeinde in Berlin-Charlottenburg sowie als Interimspfarrer in der Gemeinde Berlin-Nikolassee. Seit November 2013 ist er jetzt ordentlicher Pfarrer an der Nikolasseer Kirche in Berlin. Steffen Reiche ist verheiratet und hat drei Töchter.