Anfang der 1980er Jahre in der Eisbergkaserne Nagold. Foto: Archiv

Aus der Not eine Tugend machen? Das kann mehr als eine bloße Floskel sein. Als sich 1996 die Bundeswehr aus Nagold zurückzog, da war der Blick schnell in die Zukunft gerichtet. Aus dem Areal der Eisbergkaserne heraus entwickelte sich ein prosperierendes Industrie- und Gewerbegebiet, der "INGpark Nagold-Gäu".

Nagold - In Nagold begriff man die Schließung der Eisbergkaserne schnell als Chance. Dagegen tun konnte man ja eh nicht viel. Der Kalte Krieg galt in den 90ern als überwunden, die Bundeswehr steckte im Umstrukturierungsprozess. Unter anderem wurde die Truppenzahl verkleinert. Und es traf in erster Linie kleine Kasernen wie eben jene im Norden Nagolds.

 

Auflösung am 3. Mai 1996

Bei der offiziellen Auflösung des Truppenstandorts am 3. Mai 1996 betonte Nagolds damaliger Oberbürgermeister Rainer Prewo (SPD) zwar, dass "die tiefere und höhere Weisheit dieser Schließung in Nagold noch immer nicht recht erkenntlich" sei - doch eigentlich sah man schnell mehr Chancen als Probleme auf die Große Kreisstadt zukommen. Nagold, das wirtschaftlich starke Mittelzentrum im Landkreis Calw brauchte Gewerbeflächen für die Zukunft. Anderen angrenzenden Kommunen ging das ganz ähnlich. Und der Standort Eisberg passte perfekt!

Es dauerte noch eine Weile, ehe die Bundeswehr das Gelände wirklich nicht mehr nutzte, doch die Pläne für den INGpark wurden weiter geschmiedet. 2003 kam es zur Gründung des "Zweckverbands Interkommunaler Industrie- und Gewerbepark Nagold Gäu". Mit im Boot an erster Stelle die direkt angrenzende Gemeinde Jettingen sowie das benachbarte Mötzingen – beides Kommunen im Nachbarlandkreis Böblingen, womit der INGpark nicht nur die Grenzen von Kommunen überschreitet sondern auch von Landkreisen (Calw und Böblingen) und in diesem Fall sogar von Regierungspräsidien (Karlsruhe und Stuttgart). Auch die Kommunen Wildberg, Ebhausen, Haiterbach und Rohrdorf (alle Kreis Calw) brachten sich in den Zweckverband ein – das Thema fehlender künftiger Gewerbeflächen ist nahezu überall präsent.

Sportanlagen noch genutzt

Zunächst stand die Vermarktung der bestehenden Flächen und Gebäude im Kasernen-Areal an. Das gelang ganz gut. Und das erklärt auch, warum das 26 Hektar große ehemalige Kasernengelände aus der Vogelperspektive betrachtet sich gar nicht so sehr verändert hat. Viel Altbestand wurde saniert und neu genutzt. Selbst die Sportanlagen der Bundeswehr sind noch da – Eisberghalle und Sportplatz werden von heimischen Vereinen und Schulen genutzt. Der einstige Gelöbnis- und Paradeplatz ist heute aufgeteilt in ein Baseballfeld und ein Parkplatz für die Halle.

Die Entwicklung des INGparks ist noch immer im Gange. Klar, das Gewerbegebiet gilt als "Gewerbepark für die nächsten Generationen". Doch ist der INGpark längst über die einstigen Kasernengrenzen hinausgewachsen – insgesamt umfasst er 89 Hektar. Neben dem Kasernen-Areal (26 Hektar) sind weitere 22 Hektar bereits vermarktet. "Es gibt derzeit im INGpark ca. 50 Unternehmen, davon neun im neuen Bereich", informiert Geschäftsführerin Simone Hurtz. Und im Laufe des Jahres 2022 kämen noch fünf weitere Unternehmen dazu. Weiter zur aktuellen Bestandsaufnahme heißt es: "Im Moment gibt es etwa 1000 Beschäftigte, mit den neuen Firmen kommen wir auf ca. 1200."

Schießanlage wird zum Hochseilgarten

Der Rückzug der Bundeswehr ermöglichte nicht zuletzt auch die Ansiedlung von neuen Freizeitangeboten. Die einstige Schießanlage der Soldaten ist heute ein Hochseilgarten. Zudem betreibt der VfL Nagold auf der Eisberghöhe einen Mountainbike-Trail und eine Inliner-Anlage. Ganz frisch ist der Dirtpark für Radsportler – in den nächsten Wochen soll er seinen Betrieb aufnehmen. Und – nicht untypisch für ehemalige Standortgelände der Bundeswehr – der einstige Truppenübungsplatz ist eines der bemerkenswertesten Naherholungsgebiete der Stadt – vor allem unter den Aspekten des Natur- und Artenreichtums ein echtes Kleinod.

Die Garnisonsstadt Nagold

Nagold selbst hat den Abgang "seiner Soldaten" längst überwunden. Doch geprägt hat die Eisberggeschichte die Stadt durchaus. Nagold war Garnisonsstadt. Große Teile des Wohngebiets Kernen entstanden einst für die Soldaten. Mehr als 800 waren auf dem Eisberg stationiert und mehr als 100 Zivilangestellte beschäftigt. Es gibt noch immer eine Fallschirmjägerkameradschaft in Nagold. Und natürlich leben noch viele ehemalige Soldaten in der Stadt – und deren Familien, mitsamt Enkeln und Urenkeln. Als die Eisbergkaserne geschlossen wurde, sah man das in Nagold natürlich mit gemischten Gefühlen. Die Soldaten waren meist fest verwurzelt im städtischen Leben, in den Vereinen, eben in der gesamten Stadtgesellschaft. Und Soldaten gehörten über Jahrzehnte zum Stadtbild Nagolds. Bei Manövern traf man als spielendes Kind im Wald schonmal Soldaten oder gar ein getarntes Fahrzeug der Bundeswehr an. Und der Anblick von schweren Hubschraubern, die über dem Eisberg flogen und aus denen Fallschirmspringer absprangen, gehörte fest zum Nagolder Stadtbild, oder war zumindest im Rückblick irgendwie ein Teil des Alltags in dieser Stadt.

Geht man allerdings an die Anfänge des Garnisonsstandort Nagold zurück, zeichnet sich ein anderes Bild. Als 1956 öffentlich wurde, dass sich der Bund mit dem Gedanken trägt, in Nagold auf dem Eisberg eine Kaserne zu bauen, da stieß das auf wenig Gegenliebe. Natürlich, das war auch dem Zeitgeist geschuldet – elf Jahre nach dem Ende des verheerenden zweiten Weltkrieges, da stand es auch den meisten Nagoldern nicht wirklich nach Militarismus. In einer Stellungnahme spricht sich Nagolds Gemeinderat damals klar gegen den Kasernenbau aus – viel lieber hätte man auf dem bundeseigenen Gelände ein Heil-Sanatorium der Bundesbahn angesiedelt. Auch das stand damals zur Debatte. Und Nagold verwies auf die wichtigen landwirtschaftlich genutzten Flächen, die für eine Armeenutzung aufgegeben werden müssten.

Start 1961 mit 635 Soldaten

Doch es half nichts. 1957 wird der Gemeinderat informiert, dass Nagold Garnisonsstadt wird. Zwei Jahre später kann mit dem Bau der Kaserne begonnen werden, Ende 1961 steht die Einweihung an. Das Fallschirmjägerbataillon 252 – erst ein gutes Jahr zuvor in Niedersachsen aufgestellt – bezieht im September 1961 die Kaserne in Nagold. Wenige Tage danach werden auch die ersten Rekruten in die Kaserne eingezogen – 250 Wehrdienstleistende. Insgesamt waren zum Start 635 Soldaten auf dem Eisberg stationiert. Das war der Beginn einer wechselvollen Geschichte, mit Höhen und Tiefen, die kleine aber auch ganz große Wellen schlagen sollten. Erst 1968 übrigens, als die hier abgebildete Luftaufnahme entstand, wurde die Kaserne offiziell auch dem Namen nach zur "Eisbergkaserne".

Die "Schleiferstadt Nagold"

Die neue Garnisonsstadt Nagold kommt schnell zu trauriger Berühmtheit – es geht um den "Schleifer von Nagold", um die "Schleiferstadt Nagold" oder wie es der damalige Generalinspekteur der Bundeswehr Förtsch ausdrückte, den "Saustall in Nagold". Bundesweit, ja sogar international sorgen die Geschehnisse aus dem Jahr 1963 für fette Schlagzeilen. Auslöser war der tragische Tod des Rekruten Gerd Trimborn nach einem Hitzemarsch. Der Fall sorgte für Aufsehen, wurde gründlich untersucht, auch in Gerichtsverhandlungen. Und schnell kamen Ausbildungsmethoden ans Licht, die so gar nicht zu dem Bild der modernen Bundeswehr passen wollten. Der Tod des 19-jährigen Rekruten hatte weitreichende Folgen: Gerichte beschäftigten sich mit den Ausbildungspraktiken in der Ausbildungskompanie 6/9 auf dem Eisberg. In der Folge stellte sich heraus, dass der verstorbene junge Mann wegen einer bei der Musterung nicht festgestellten gesundheitlichen Beeinträchtigung gar nicht erst hätte eingezogen werden dürfen. Direkt wegen des Todes des 19-Jährigen wurde auch niemand verurteilt. Doch Polizei und Staatsanwaltschaft ermittelten, Journalisten aus dem In- und Ausland recherchierten. Und schnell wurde klar, dass das "Schleifen" von Rekruten in der Ausbildungskompanie 6/9 weit verbreitet war.

Auflösung in Schande

In mehreren Verhandlungen mussten sich die Ausbilder rechtfertigen. Zwei Offiziere und mehrere Unteroffiziere und Mannschaften wurden zum Teil zu mehrmonatigen Haftstrafen ohne Bewährung verurteilt. Missbrauch der Befehlsbefugnis, Misshandlung von Untergebenen und Verletzung der Menschenwürde waren die Anklagepunkte. Am 29. Oktober 1963 löste der Bundeswehr-Generalleutnant Leo Hepp die Fallschirmjäger-Ausbildungskompanie 6/9 auf – eine massive Reaktion, eine Auflösung in Schande. Und die Gerichtsverhandlungen brachten ein verheerendes Bild an die Öffentlichkeit. Schikanen und sinnlose Quälereien wurden bekannt: Ein unmusikalischer Rekrut wurde immer wieder gezwungen zu singen – zum Teil vor versammelter Mannschaft. Von Stößen und Fußtritten ist die Rede, von Liegestützen über einem aufgeklappten Taschenmesser, überhartem Drill zur Tag- und Nachtzeit und von Beschimpfungen übelster Art. "Der Schleifer von Nagold" – dieses Schlagwort entstand in dieser Zeit. Und Nagold sollte für Jahrzehnte der zweifelhafte Ruf der "Schleiferstadt" anhaften.

Auf dem Eisberg war man in den Folgejahren bemüht, ein besseres Bild abzugeben, die Kontakte auch zur Zivilbevölkerung zu verbessern. 1964 fand ein erster Tag der offenen Tür statt – 20 000 Besucher sollen der Einladung gefolgt sein, Oder um es in einer auch unter Nagoldern beliebten Maßeinheit auszudrücken: 4000 Portionen Erbsensuppe wurden ausgegeben. Von Reibereien in der Stadt wird dennoch berichtet. Dazu muss man allerdings wissen, dass es vor allem zu Zusammenstößen zwischen jungen Soldaten und den nicht weniger jungen Studierenden an der ebenfalls in Nagold angesiedelten Textilfachschule kam.

Doch der Trend der Verständigung war eingeleitet und hielt auch an. Es folgten weitere Tage der offenen Tür, Kontakte zur Stadt und dem Gemeinderat wurden intensiviert. Auch sportlich kam es fortan verstärkt zu Begegnungen.

Fallschirmjägerbataillon 253

1982 kam es zu organisatorischen Veränderungen, die schließlich dazu führten, dass ein neu aufgestelltes Bataillon ebenfalls in Nagold stationiert wurde – das Fallschirmjägerbataillon 253, das in seinem Wappen sogar Teile des Nagolder Stadtwappens integrierte.

1990 gab es dann nochmals überregionale Schlagzeilen rund um den Eisberg. Ein auch in Nagold von 1982 bis 1987 arbeitender Sicherheitsoffizier – Hauptmann Axel R. – wurde als Stasi-Spitzel enttarnt. Der Chronist des Nagolder Heimatgeschichtevereins Hermann Scheurer bemerkte dazu: "Dies war umso unbegreiflicher, als R. als ein fähiger Offizier gegolten hatte und allgemein beliebt war."

Dann kamen die Umstrukturierungen innerhalb der Bundeswehr – deutschlandweit. Die Truppe musste reduziert werden auf 370 000 Mann. Eines der "Einsparopfer" damals: die Eisbergkaserne in Nagold – ein Ort an dem heute an der Zukunft der wirtschaftlichen Entwicklung einer ganzen Region geschrieben wird.