Der Bote des Friedens über München: An Allegorien zur Überwindung von Gewalt fehlt es nicht. Foto: imago /Martin Siepmann Foto:  

Die Ursachen von Kriegen und Konflikten beschäftigen Historiker seit Jahrhunderten. Wie aber lassen sich Kriege wieder beenden? Jedenfalls nicht durch himmlische Boten. Frieden ist Ergebnis höchst komplizierter Prozesse.

Auf den ersten Blick erscheint es viel leichter, den Beginn großer Konflikte zu definieren als ihr Ende. Menschen assoziieren mit Kriegsanfängen fast immer bestimmte dramatische Anlässe: den Prager Fenstersturz im Mai 1618 als Beginn des Dreißigjährigen Krieges, das Attentat von Sarajewo im Juni 1914, den Beschuss der Danziger Westerplatte in Danzig durch ein deutsches Schlachtschiff im September 1939, oder den Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine am 24. Februar 2022. Das Ende von Kriegen ist viel schwieriger zu bestimmen. Denn die meisten historischen Wege in den Frieden waren verschlungen, immer wieder verzögert und unterbrochen. Je länger ein Krieg dauerte, je mehr Opfer er über Monate und Jahre anhäufte, desto unübersichtlicher und widersprüchlicher verlief der Weg in den Frieden.

 

Waffenpause oder echter Frieden?

Wann ein Krieg wirklich endet, ist eine der kompliziertesten Fragen überhaupt: mit einer ersten Waffenruhe, einem stabilen Waffenstillstand, einer internationalen Friedenskonferenz, einem von allen Beteiligten unterzeichneten Friedensvertrag? Mit der aus Verlust, Opfer und Trauer gewonnenen Einsicht in die gegenseitige Erschöpfung, aus der eine rationale Einsicht in die Notwendigkeit des Friedens und ein Fenster für die Diplomatie entstehen? Mit einem erst nach Jahren wieder belastbaren Vertrauen zwischen ehemaligen Gegnern? Oder doch erst mit der Aussöhnung zwischen Individuen, Familien, Gemeinschaften, der Anerkennung von Opfern und Verbrechen, von Schuld und Schulden zwischen Gesellschaften? Ab wann weiß man eigentlich genau, ob ein Vertrag mit den Unterschriften von Politikern, Diplomaten und Militärs wirklich Frieden schafft, oder ob es sich nur um einen temporären Waffenstillstand handelt, eine taktische Atempause, um neue Ressourcen zu mobilisieren und den Krieg dann umso entschiedener fortzuführen?

Was das Ende eines langen Krieges bedeutete, den man sich als kurzen Krieg vorgestellt hatte, erwies sich im Ersten Weltkrieg und exemplarisch in der Beziehung zwischen Deutschen und Franzosen. Deutsche und Franzosen jedenfalls schlossen weder am 11. November 1918, dem Tag des Waffenstillstandes, noch am 28. Juni 1919 bei der Unterzeichnung des Versailler Vertrages, wirklich Frieden miteinander. Diese Daten markierten allenfalls formale Akte: das Ende akuter Kampfhandlungen an der Westfront Europas und den Abschluss der Pariser Friedenskonferenz. Die Ergebnisse des mit Erwartungen überforderten Friedens von 1919 provozierten neue Verletzungen: durch territoriale Bestimmungen, Reparationen und die Betonung einer „Kriegsschuld“ der Deutschen, die zum Ausgangspunkt neuer Revisionsobsessionen wurde und so zum Aufstieg des Nationalsozialismus beitrug.

Der Abschluss eines Friedensvertrags sagt nichts aus über kollektive Verletzungen und langfristige Belastungen. Auch die von Gustav Stresemann und Aristide Briand 1925 in Locarno erreichte Garantie der Grenzen in Westeuropa änderte nichts daran, dass der Krieg in den Köpfen vieler Menschen präsent blieb. Als deutsche Truppen im Juni 1940 Frankreich innerhalb weniger Wochen besiegten, schien es vielen Deutschen, dass erst jetzt der Erste Weltkrieg mit einem deutschen Sieg ende, der die unverstandene und von vielen nicht akzeptierte Niederlage von 1918 auszulöschen schien. Der Schatten des Kriegsendes von 1918 war eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg der Erlösungsversprechen Adolf Hitlers.

Wenn sich in beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts die Entgrenzung der Gewalt gegen Soldaten und Zivilisten, die jahrelange Auszehrung von Gesellschaften und Staaten und die Formwandlungen der Gewalt von Staaten- und Bürgerkriegen in Genozide vollzogen, so unterschieden sich die Endphasen ab 1917/18 und 1942/43 doch charakteristisch. Dem Ersten Weltkrieg folgte ein Friedensvertrag, der den deutschen Nationalstaat von 1871 überleben ließ und nach 1918 Chancen auf eine friedliche Revision eröffnete. Der Zweite Weltkrieg endete in einer bedingungslosen Kapitulation, ohne formalen Friedensvertrag und mit dem Ende Deutschlands als klassischer Nationalstaat.

Wo kann der Blick in die Geschichte also helfen, um sich in der Gegenwart besser zurechtzufinden? Aus historischer Perspektive setzte erfolgreiche Diplomatie zumeist die Einsicht aller Kriegsteilnehmer in die eigene Erschöpfung und die daraus abgeleitete Alternativlosigkeit einer politischen Friedenssondierung voraus. Doch bevor es so weit kommen konnte, verlängerte der Krieg sich häufig gleichsam durch sich selbst. Denn in vielen Kriegsgesellschaften wirkten angesichts der vielen Opfer jede scheinbar vorzeitige Konzession und Friedensbereitschaft wie Defätismus und Verrat. So intensivierte sich gerade in vielen Endphasen von Kriegen im 20. Jahrhundert die Gewalt. In den letzten Monaten des Ersten Weltkriegs kam es zu einer regelrechten zweiten Mobilisierung und besonders hohen Verlusten. Das galt auch für den Zweiten Weltkrieg ab 1943/44 in Europa und im Pazifik und reichte bis zum bislang einzigen Einsatz von Atomwaffen in einem militärischen Konflikt. Auch im Dekolonisierungskrieg Frankreichs in Algerien kam es in der Endphase der 1950er und in den frühen 1960er Jahren zu einer Gewaltintensivierung. Auf dem langen Weg der USA aus dem Vietnamkrieg spielte die Ausweitung der Gewalt gerade nach der Einsicht in das sich abzeichnende Ende des Konflikts eine wesentliche Rolle. Es ging darum, für absehbare Friedensverhandlungen eine möglichst gute Ausgangsposition zu erlangen und dem Gegner die eigene Handlungsfreiheit zu demonstrieren. Zum Weg in den Frieden gehört also nicht allein die schmerzvolle Einsicht in die gegenseitige Erschöpfung, sondern immer auch die Bereitschaft zur taktischen Wiederaufnahme von Gewalt.

Die Geschichte zeigt, dass bei der Suche nach einem stabilen Friedensprozess starke Vermittler immer wieder ein wichtiger Faktor waren. Sie mussten mit der notwendigen Macht ausgestattet sein, Waffenstillstands- oder Friedensbestimmungen auch konkret durchzusetzen und sie mussten bereit sein, sich langfristig für einen Frieden zu engagieren, auch über Waffenstillstand und Friedensvertrag hinaus. Diese Einsicht prägte etwa führende Politiker und Militärs der Vereinigten Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg im Blick auf Westeuropa. Auch im Nahen Osten und im Friedensvertrag von Dayton im Rahmen der Jugoslawienkriege konnten die Vereinigten Staaten diese Rolle in Ansätzen spielen.

Eine weitere historische Erkenntnis hat mit den Versuchen zu tun, Kriege zu verrechtlichen. Diese Entwicklung begann nach dem Dreißigjährigen Krieg mit dem Versuch, den Krieg durch bestimmte Regeln einzudämmen: einen Feldzug erst zu beginnen, wenn die Ernte eingefahren ist; in einer formalen Kriegserklärung die Gründe für den Krieg zu benennen; sich auf ein Prozedere zum Ausgang aus einem Krieg zu einigen: von einer Waffenpause, einem Waffenstillstand, über einen Präliminarfrieden, der die akute militärische Gewalt beendet, bis hin zu einem völkerrechtlich verbindlichen Friedensvertrag als Ergebnis einer formalen Friedenskonferenz. Und nach den Erfahrungen des Ersten und zumal des Zweiten Weltkriegs ging man angesichts der singulären Verbrechen der Shoa noch einen Schritt weiter. Die Kriegsverbrecherprozesse und Nürnberg und Tokyo standen in diesem Kontext.

Unsere Erwartungen, was ein Frieden leisten soll, sind historisch immer weiter gestiegen. Frieden ist demnach nicht nur die bloße Abwesenheit militärischer oder kriegerischer Gewalt. Als langfristiger Prozess ist er mit starken Gerechtigkeitsvorstellungen verbunden: mit der Anerkennung der Opfer, der Ahndung und Aufarbeitung von Kriegsverbrechen, mit dem Appell an gesellschaftliche Lernprozesse. Gleichzeitig endeten nach 1945 immer weniger Kriege noch mit klassischen Friedensverträgen. Vor allem veränderte sich der Charakter der Kriege. Die Zahl von Bürgerkriegen und hybriden Konflikten, in denen zwischen Krieg, Kriminalität und Terrorismus kaum mehr zu unterscheiden ist, nahm gegenüber klassischen Staatenkriegen zu. In solchen Konflikten aber gibt es häufig gar keine Akteure, die über die politische Prokura verfügen, einen verbindlichen Frieden zu schließen und die ausgehandelten Bedingungen konkret umzusetzen. Auf viele dieser Gewalterfahrungen passt das Instrumentarium des Völkerrechts und der klassischen Friedenspraxis nicht mehr. So steht am Ende kein stabiler Frieden, sondern ein Formwandel der Gewalt auf einer niedrigeren Ebene, bei der die Eskalation in eine Vielzahl lokaler Gewaltherde und in Versuche übergeht, den Gegner asymmetrisch zu destabilisieren.

Ein „fauler Frieden“ in der Ukraine wäre verheerend

Eine letzte Einsicht aus historischer Perspektive: Blickt man zu Beginn des dritten Kriegsjahres auf die Ukraine, muss man an die Risiken eines Friedens auf der Grundlage einseitiger Konzessionen erinnern. Erodiert der Willen des Westens, die Ukraine gegen die russische Aggression wirksam und langfristig zu unterstützen, wird dies zur wichtigsten Ressource der russischen Aggression werden. Die Folgen für die Sicherheit der europäischen Demokratien wie für die Glaubwürdigkeit einer internationalen Ordnung nach Regeln wären verheerend und die langfristigen Kosten immens. Wer vor diesem Hintergrund einseitige Zugeständnisse der Ukraine fordert, sollte sich mit historischen Beispielen „fauler Friedensschlüsse“ beschäftigen, vom Umgang der Römer mit Karthago bis zur Haltung Frankreichs und Großbritanniens gegenüber Hitlers Aggressionspolitik. Nicht die grundsätzliche Suche nach Verhandlungslösungen diskreditierte die Diplomatie der Briten und Franzosen ab 1936. Das Verhängnis bestand vielmehr darin, letztlich keine konsequente Antwort auf einen Gegner zu besitzen, der zu keinem Augenblick bereit war, sich glaubwürdig auf eine solche Friedenslösung einzulassen.

Jörn Leonhard ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Freiburg. 2023 erschien sein Buch „Über Kriege und wie man sie beendet“. 2024 erhielt er den Wilhelm Gottfried Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft.