Im Frühjahr 1945 ließ sich ein lettischer Schriftsteller, der vor den Sowjets geflüchtet war, im Talgang nieder. Er blieb fünf Jahre; sein Buch über diese Zeit ist jetzt auf Deutsch erschienen. „Schwäbisches Capriccio“ hält den Tailfingern den Spiegel vor.
Pēteris Drusts kommt an einem trüben Februarabend auf einem schwäbischen Kleinstadtbahnhof an und steigt dort sofort in eine Nebenstreckenbahn um, weil er Angst vor einem Luftangriff hat.
Der Bahnhof ist der Ebinger, die Nebenstrecke die Talgangbahn – wer Albstadt kennt, weiß es sofort, obwohl weder der eine noch der andere Name genannt wird. In „Pfifferlingen“ steigt er aus – anders als die Nachbarorte Truchtelfingen und Onstmettingen bleibt Tailfingen im „Schwäbischen Capriccio“ inkognito.
Frau Bitzer zu finden ist nicht schwer
Allerdings ist es mit diesem Inkognito nicht weit her: Der Bürgermeister heißt Konzelmann, die Witwe, bei der Drusts sich einmietet, Leni Bitzer – und das Phantom, in das er sich, ohne mehr als zwei dunkle Augen gesehen zu haben, gleich bei seiner Ankunft verliebt, ebenfalls Bitzer. Den Vornamen kennt er nicht, und das ist sein Problem: Frau Bitzer in Pfifferlingen zu treffen ist, wie er schnell herausfindet, lächerlich einfach; jede zweite heißt so – eine bestimmte Frau Bitzer aufzuspüren kommt dagegen der Suche nach der Nadel im Heuhaufen gleich.
Auf der Flucht vor den russischen Besatzern
Pēteris Drusts ist das Alter Ego von Anšlavs Eglītis, einem Angehörigen der ersten lettischen Intellektuellengeneration, der in der Zwischenkriegszeit als Schriftsteller in Riga reüssierte und 1944 vor den sowjetischen Okkupanten das Weite suchte.
Er landete erst in Berlin, wurde dort ausgebombt und blieb auf dem Weg in die Schweiz ausgerechnet in Tailfingen hängen. Fünf Jahre lebte er dort mit seiner Frau und, seiner Leserschaft beraubt, vor allem auf ihre Kosten – sie verstand sich aufs Malen und verdiente ihren und den Lebensunterhalt ihres Mannes damit, dass sie Fabrikantengattinnen porträtierte.
1950 verließ das Ehepaar den Talgang und wanderte nach Amerika aus, wo Anšlavs Eglītis 1993 hochbetagt starb.
Ein konkaver Zerrspiegel für Tailfinger, Talgänger und Schwaben
Bereits 1951 war sein „Švābu Kapričo“ erschienen, und wer es 73 Jahre später als Albstädter oder gar Tailfinger liest, den beschleichen sonderbare Gefühle: Das Buch ist ein Sittengemälde der Nachkriegszeit, die unendlich weit weg zu sein scheint – und zugleich eines der schwäbischen Provinz, deren Eigenheiten einem nur zu vertraut sind. Eglītis hält den Schwaben, Talgängern, Tailfingern den Spiegel vor, aber dieser Spiegel ist ein – im Zweifelsfall konkaver – Zerrspiegel, in dem das Objekt noch breiter, dicker, gestauchter erscheint, als es tatsächlich gewesen sein kann.
Die „Neue Zürcher Zeitung“, die das erst jüngst ins Deutsche übersetzte Buch rezensiert hat, konstatiert einigermaßen suevophob, die Pfifferlinger kämen darin „nicht gut weg. Die große Niederlage Deutschlands spiegelt sich im Kleinen, in Bedeutungshuberei, Habgier und Hoffart.“
Notorische Popanzen, soweit das Auge reicht
Das stimmt – aber nicht ganz. Keine Frage, es wimmelt von feisten, aufgeblasenen, obrigkeitshörigen und notorisch fremdenfeindlichen Popanzen – der Sozialdemokrat, der, weil unbelastet, nach dem Krieg von den Franzosen in eine Führungsposition gehievt wurde, macht da keine Ausnahme.
Der Feuerwehrkommandant ist zugleich inkompetent und eitel; lieber lässt er ein Haus bis auf die Grundmauern abbrennen, als Fehler zu korrigieren. Da ist der Hauseigentümer, der nach einem Unwetter freudig die vermeintlich vom Dach des Nachbarn gewehten Dachsparren zu Brennholz zersägt, bis er feststellt, dass es seine eigenen sind.
Oder der Metzgergehilfe, der bereit ist, den Verlust eines Fingers in Kauf zu nehmen, um einen Verlobungsring loszuwerden.
Schilda lässt grüßen – aber Sympathie schwingt mit
All das hat viel von Schilda. Doch es gibt auch Gestalten, die bei aller Distanz, die den Großstädter aus Riga von den Bauern, Handwerkern und Textilarbeitern trennt, mit Sympathie geschildert werden – überwiegend Frauen. Die Truchtelfingerin Marieluise Blickle zum Beispiel, die mit 79 auszieht, um die weite Welt kennenzulernen, allerdings – von der Fülle der Eindrücke überwältigt – schon in Pfifferlingen beschließt, dass sie jetzt genug gesehen hat. Oder Drusts Vermieterin Leni Bitzer, die tatsächlich so ehrlich und geradeheraus ist, wie die Schwaben gern zu sein meinen, obwohl das längst nicht immer stimmt. Nur einen Satz schluckt sie im Buch herunter, und der fängt so an: „Ja, ja, der Endsieg, der treibt uns noch ins endgültige...“
Der Schluss ist versöhnlich: „Meine ruhige, rechtschaffene Zuflucht Pfifferlingen mit ihren wackeren Bewohnern!, dachte Pēteris Drusts gerührt – und da verdeckte schon ein steiler Hang den Blick zurück.“
Das Buch: Anšlavs Eglītis, Schwäbisches Capriccio, 320 Seiten, Guggolz-Verlag Berlin. 25 Euro.