Isabell Sawade, die Bundestrainer der Rhythmischen Sportgymnastik, freut sich über jeden kleinen Schritt, den es nach vorne geht. Foto: DTB

Bochingen, ein kleiner Ortsteil von Oberndorf am Neckar. Es ist genau 9 Uhr. "Einen kleinen Moment dauert es noch", entschuldigt sich Isabell Sawade, "ich muss noch schnell meine Deutschland-Marmelade abfüllen." Wenige Minuten später sitzt die Bundestrainerin für die Rhythmische Sportgymnastik ganz entspannt am Esstisch und plaudert mit unserer Zeitung über ihre Sportart, die immer noch ein mehr oder weniger großes Schattendasein führt.

"Doch da wollen wir unbedingt raus", macht Isabell Sawade klar. Ein Anfang wurde am Wochenende gemacht: Die 15-jährige Darja Varfolomeev aus Schmiden holte in Tel Aviv mit zweimal Bronze die ersten deutschen EM-Medaillen seit 42 Jahren.

Isabell, im September sind Sie fünf Jahre Bundestrainerin. Macht Ihnen die Arbeit noch Spaß?

An den meisten Tage denke ich, ja, ich mache meine Arbeit gerne. Aber es gibt auch Tage, an denen mir die Sache nicht so den ganz großen Spaß bereitet. Normalerweise stehe ich aber jeden Morgen auf und mache es gerne.

Das hat sicher damit zu tun, dass Ihre Sportart nicht den Stellenwert genießt, den Sie sich wünschen würden.

Stimmt. Aber wir müssen den Kopf aus dem Sand strecken. Und wir haben ja eine Art Neustart hingelegt. Wir haben eine neue Generation von Gymnastinnen, die international wieder mitmischen können. Das ist ganz wichtig, denn wir stehen ja nur im Rampenlicht, wenn wir Erfolge haben. Denn keiner berichtet über eine Sportart, die nicht erfolgreich ist. Aber das passiert jetzt Schritt für Schritt. Margarita Kolosov war da unser Türöffner.

Inwiefern?

Sie war letztes Jahr 16. bei der Weltmeisterschaft. Und jetzt eben durch die Darja Varfolomeev. Beide haben dieses Jahr schon Weltcup-Medaillen geholt, Maria das Weltcup-Gerätefinale in Taschkent gewonnen.

Also haben beide Ihre Arbeit durch ihre Leistungen bestätigt?

Auf jeden Fall. Es ist ein Schritt nach oben. Aber dadurch wurde nicht meine eigene Arbeit, sondern – wenn ich davon spreche – die Arbeit eines kompletten Teams belohnt. Wobei wir aber längst nicht so gut aufgestellt sind wie andere Sportarten. Potas lässt grüßen. Wir liegen aktuell auf Platz 99 von 103 Sommersportarten.

Was bedeutet das? Fehlt es an finanziellen Mitteln?

Ja, es ist finanziell ganz, ganz schwierig. Die Einzel-Gymnasiastinnen finanzieren einen Großteil ihrer Wettkämpfe selbst. Sie zahlen einen hohen vierstelligen oder niedrigen fünfstelligen Betrag. Dazu kommt natürlich die Unterstützung der Vereine und der Deutschen Sporthilfe.

Geht es anderen Sportarten ähnlich?

Viele olympische Sportarten werden nicht so gefördert, wie sie eigentlich gefördert werden sollten. Das bekomme ich auf den Spitzensportkonferenzen des DOSB mit, aber ich will mich nicht beschweren. Es wäre allerdings schön, wenn wir mehr Geld zur Verfügung hätten.

Wo liegen denn für die deutschen Sportgymnastinnen die größeren Aussichten? In der Gruppe oder im Einzeln?

Die Gruppe war letztes Jahr bei der WM Siebter, das war so ein erster Lichtblick. Danach lief es aber in der weiteren Vorbereitung, auch durch Corona, nicht mehr rund. Deshalb sind wir auch mit dem zwölften Platz bei der EM nicht zufrieden. Aber die Einzel haben es wieder wettgemacht. Es gibt bei Welt- und Europameisterschaften eine Teamwertung. Da waren wir in diesem Jahr Fünfter, im Jahr davor 13. Das zeigt, dass es vorangeht. Natürlich immer mit dem Wissen, dass Russland und Weißrussland nicht dabei sind.

Was muss in Zukunft passieren? Wie bringt man ein junges Mädchen dazu, mit der Rhythmischen Sportgymnastik anzufangen?

Also, wir haben keine Nachwuchsprobleme. Wir haben entsprechende Aktionen laufen, und die kleinen Mädchen mögen es ja eh, wenn sie in ihren Anzügen und mit Glitzer auflaufen – wie kleine Prinzessinnen.

Okay, aber wie geht es dann weiter?

Wir brauchen eine breite Basis, um eine Spitze daraus formen zu können. Wenn es in den Leistungsbereich geht, werfen sich andere Fragen auf. Wer ist bereit, dieses hohen Trainingspensum in Kauf zu nehmen? Es ist sehr, sehr hart.

Wo liegt denn das kritische Alter?

Mit sieben Jahren haben wir die ersten Wettkämpfe, danach wird langsam aufgebaut. Das kritische Alter liegt so bei zehn, elf, wenn der Wechsel auf die weiterführenden Schulen stattfindet.

Also noch mal kurz zurück: Am fehlenden Nachwuchs liegt es nicht. Woran denn dann?

Was unserer Sportart guttun würde, wäre eine internationale Großveranstaltung. Nicht nur ein Weltcup, sondern eine EM oder WM. Eine Veranstaltung, bei der du einen gewissen Verlauf hast, bei der die Ehrenamtlichen eingebunden werden. Das wäre gut für Trainer und Kampfrichter. Damit sie ein bisschen den Einblick in das internationale Geschehen bekommen. Bis 2017 hatten wir ja die eine oder andere Veranstaltung dieser Art, darunter den Robert-Bauer-Pokal in Stuttgart oder das Berlin Masters, aber jetzt nicht mehr. Und das fehlt.

So ein Event wäre natürlich auch für die Athletinnen gut.

Na klar, denn dann könnten die Gymnastinnen aller Altersklassen einmal die großen Stars sehen.

Aber warum gibt es diese Veranstaltungen nicht mehr?

Die Aussagen dazu sind klar: So etwas ist nur schwer zu finanzieren. Das ist ja gerade unser Teufelskreis. Ohne mediale Präsens gibt es keine Sponsoren, ohne Erfolge keine Präsenz. Aber wir sind auf dem Weg dazu. Deshalb setze ich auch so große Hoffnungen auf die Finals am Wochenende in Dortmund. Da wird unserer Wettkampf mehrere Stunden lang live gestreamt.

Isabell, wie lange werden wir Sie noch als Bundestrainerin sehen?

Mein ganz großes Ziel sind die Olympischen Spiele 2024 in Paris mit dem Team und den Einzelgymnastinnen.

Eine allerletzte Frage: Für wen ist denn nun eigentlich die Marmelade?

Die ist für meine vielen ehrenamtlichen Helfer, die ich am Wochenende in Dortmund treffen werde.