Stefan Selke, Professor an der Hochschule Furtwangen (HFU), war für einen zweieinhalbwöchigen Workshop in Rio de Janeiro an der Partnerhochschule Pontifica Universidade Catolica (PUC). Dort konnte er ganz besondere Erfahrungen sammeln.
Der Workshop befasste sich mit dem Thema „Public Science“, öffentliche Wissenschaft – ein Schwerpunktgebiet von Selke, der an der HFU eine Professur für „Gesellschaftlichen Wandel“ innehat.
Bereits im vergangenen Jahr war er in Brasilien an der Partneruniversität zu einem Vortrag über gesellschaftswissenschaftliche Perspektiven im Hinblick auf Künstliche Intelligenz eingeladen.
„Im Nachgespräch mit der Fakultätsleitung suchten wir nach weiteren Themen für eine längerfristige Kooperation. ‘Öffentliche Wissenschaft’, mein Schwerpunktthema, lag nahe“, erläutert Selke. Einerseits, weil dies seit 2015 der Inhalt seiner Forschungsprofessur sei, andererseits weil Gesellschaftswissenschaften in Brasilien traditionell eine größere Öffentlichkeitsorientierung hätten. Die gesellschaftliche Verantwortung von Hochschulen gegenüber der Gesellschaft sei in Brasilien schon immer vielfältig und aktiv gelebt worden. So habe sich die Idee für einen Workshop ergeben, der sowohl praktische als auch theoretische Dimensionen zu „Public Science“ umfasse.
Intensive Beziehung
„Zu Brasilien habe ich eine intensive biografische Beziehung. In den 90er-Jahren lebte ich eine Zeit lang in einer brasilianischen Familie in Bauru (São Paulo)“, erklärt Selke seine Verbundenheit mit dem Land. „Zudem habe ich neben Soziologie portugiesische Literaturwissenschaften studiert. Seitdem lassen mich Land, Leute, Kultur und vor allem die Sprache nicht mehr los.“
Forschung zu Stefan Zweig
Darüber hinaus forsche er zum österreichischen Schriftsteller Stefan Zweig und dessen Gesellschaftsutopie. Seine Geschichte sei erschreckend aktuell. „Zweig war Jude und floh bereits 1934 vor den Nazis, zunächst nach England, dann in die USA. Aber erst in Brasilien erhielt er schließlich ein unbefristetes Bleiberecht“, erklärt Selke. In Petrópolis, einer Kleinstadt in den Bergen nahe Rio, habe sich Zweig ein Haus gemietet.
„Verzweifelt über die Geschehnisse in Europa beendete er aus ‘Weltschmerz’ sein Leben kurz nach seinem 60. Geburtstag“, so Selke. „Ich schreibe gerade ein Buch über das Thema Exil. Da lag es nahe, Recherchen vor Ort zu machen. Zudem endet in Rio gerade eine einzigartige Ausstellung zu Stefan Zweig. Meine Studierenden waren übrigens äußerst interessiert an Zweigs Geschichte. Denn über diesen Umweg konnte ich ihnen viel über die Gegenwart Europas und die aktuellen politischen Veränderungen vermitteln.“
So viel Diversität
Rund ein Dutzend Studenten aus verschiedenen Fachbereichen nahmen an Selkes Workshop teil. Die Diversität der Gruppe habe sich sofort in der Themenwahl für die studentische Präsentationen gezeigt: „Eine Trans-Person beschäftigte sich mit der Wahrnehmung dieser Personengruppe in Brasilien. Und das vor einem durchaus ernsthaften Hintergrund, denn ihr Partner war erst ein Jahr zuvor ermordet worden. Eine Studentin, die alleinerziehende Mutter ist, berichtete über ihr Engagement für Frauenrechte. Eine weitere Studentin musste morgens und abends jeweils zwei Stunden pendeln, um von ihrem Wohnort in mein Seminar zu kommen. Logischerweise beschäftigte sie sich mit der Verbesserung urbaner Mobilität. Es gab unglaublich vielfältige und authentische Themen, die von der öffentlichen Ko-Produktion von Kreativität bis zur Rolle von Lehrenden bei der Vermittlung soziologischer Inhalte reichten“, erzählt Selke.
Zu Besuch in einer Favela
Die Zusammenarbeit mit den Studenten sei äußerst dynamisch und fruchtbar gewesen. „Sehr schnell konnten wir Vertrauen zueinander aufbauen. Das führte auch dazu, dass uns eine Studentin, die in der nahe gelegenen Favela Rocinha lebt, zu einer Führung und einem Besuch bei ihr zu Hause einlud. Direkt neben den luxuriösen Hotelanlagen am Strand von Ipanema und Leblon leben rund 75 000 Menschen in Häusern, die illegal und auf abenteuerliche Art und Weise an den Hang gebaut wurden. Rio ist die Stadt in Brasilien mit dem größten Anteil dieser ’Slums‘. Allerdings kennt kaum ein Brasilianer diese Favelas aus eigenem Augenschein, höchstens aus dem Fernsehen. Klar, dass ich mich als Soziologe über eine derartige Möglichkeit gefreut habe. Diese Exkursion war für uns alle eine enorme Bereicherung“, so Selke.
Botschaften auf Singles
Eines seiner Projekte beim Workshop hieß „Be a Voice, not an Echo“. Dabei wurden individuelle Vinyl-Singles produziert. „Jede dieser Singles enthält eine Botschaft zu einem gesellschaftlich relevanten Zukunftsthema. Ich habe ja bereits geschildert, dass sich die Studierenden mit ernsthaften Fragen beschäftigten. Auf dieser Basis haben wir gemeinsam Botschaften entwickelt, die sich allesamt an ein öffentliches Publikum richten.“
Jede Single werde zweifach produziert. „Eine persönliche Single erhalten die Studierenden als Erinnerung. Die zweite Single sammle ich für mein ‘Archiv der Zukunftseuphorie‘, das ich gerade aufbaue. Dabei werden Botschaften auf Singles gesammelt und kuratiert. Am Ende wird es dann auch eine öffentliche Ausstellung geben.“
An seinen in Brasilien gesammelten Erfahrungen möchte er seine Studenten in Furtwangen teilhaben lassen und ähnliche Workshops und Projekte auch hier umsetzen.