Mit dem Mythos, dass Inuit zig Wörter für Schnee besitzen, muss endlich Schluss sein.

Stuttgart - Der Schnee an diesem bitterkalten Wintermorgen liegt sehr fein auf dem Bürgersteig. Er sieht fast aus wie Puderzucker. Sehr pulverig. Der Schnee aber am Straßenrand ist festgefahren. Ein Stückchen weiter dann ist er gar nicht mehr weiß, sondern schwarzgrau vom Dreck der Autos. Schnee ist nicht gleich Schnee. Auch wenn bei uns das gleiche Wort dafür herhalten muss.

Wer Peter Høegs "Fräulein Smillas Gespür für Schnee" gelesen oder Linguistik studiert hat, kennt den Mythos, der sich immer noch hartnäckig hält: Dass der Eskimo - der heute Inuit genannt werden sollte - viele verschiedene Wörter für Schnee in seinem Wortschatz hat. Manche sprechen von zehn, zwanzig, fünfzig oder gar hundert verschiedenen Wörtern.

Inuit kenne zig Wörter für Schnee - ein Märchen

Dabei klingt es auch so logisch. Die Inuit, die sich den ganzen Tag in der weißen Pracht aufhalten, die nur Weiß vor Augen haben, kennen kleine, feine Unterschiede und differenzieren diese auch in ihrer Sprache. "Es ist ja auch eine schöne Geschichte", sagt Anatol Stefanowitsch (40), Linguistik-Professor in Hamburg für Anglistik, "aber leider nicht wahr." Laura Martin, eine amerikanische Anthropologin, hat versucht, dem Ursprung dieses Mythos auf den Grund zu gehen. "Der amerikanische Linguist Benjamin Lee Whorf hat ein Beispiel mit drei Wörtern gebracht", sagt Anatol Stefanowitsch, "so ging das weiter, fand Einzug in verschiedene Lehrbücher und ist immer weiter übertrieben worden." Mit dem Beispiel der Inuit sollte dargestellt werden, wie Kulturen die Welt unterschiedlich sehen. Sogar in Linguistik-Einführungen wurde das Beispiel der verschiedenen Wörter der Inuit für Schnee gebracht. Martin wiederum hat gezeigt, wie aus diesem ursprünglichen Beispiel nach und nach durch Übertreibungen der Mythos von Dutzenden oder Hunderten von Schneewörtern entstand.

Wer verstehen will, warum der Mythos falsch ist, muss mitten rein in die Sprachwissenschaft, sich klarmachen, dass die Sprachfamilie der Inuit eine andere als die unsere ist. Es ist eine polysynthetische Sprache, deren Wortbildung anders funktioniert als die der indogermanischen Sprachen.

Bei den Inuit gibt es tatsächlich verschiedene Wörter für Schnee: für Schneeflocken, also fallenden Schnee, steht "qanik". Schnee, der am Boden liegt, wird "aput" genannt. Damit gibt es zwei Grundwörter. Was wir in Relativsätzen ausdrücken, sieht bei den Inuitsprachen aus wie ein Wort. "Durch Präfixe und Suffixe kann man da ganz komplexe Bedeutungen aufbauen, und es sieht für uns immer noch aus wie ein Wort", sagt Stefanowitsch. "Die können das aber auch mit jedem anderen Wort machen, nicht nur mit Schnee."

Eskimos haben zwei Grundwörter - vielleicht drei

Ob Komposita wie etwa Pappschnee oder Schneematsch, ob die Kombination aus Adjektiv und Substantiv wie bei glitzernder Schnee oder flockiger Schnee oder eben die Bildung mit einem Relativsatz (Beispiel: Schnee, der an der Windschutzscheibe klebt) - auch wir können viele verschiedene Aussagen zum Schnee treffen. Obwohl wir nicht den ganzen Tag davon umgeben sind. In den Inuitsprachen sehen alle diese Begriffe aus wie ein Wort, "doch das sind keine Wörter in unserem Sinn, inhaltlich betrachtet sind es eher ganze Sätze", sagt Stefanowitsch.

Bei den Inuit gibt es sicher die oben genannten zwei Grundwörter, eventuell noch ein drittes. Ob es ein drittes, vielleicht sogar viertes Wort für Schnee gibt, hängt ein bisschen davon ab, von welcher Eskimosprache man spricht und wie großzügig man beim Zählen ist. "Es mögen, je nach Eskimo-Aleut-Sprache und Dialekt, noch ein oder zwei potenzielle Kandidaten hinzukommen", sagt Stefanowitsch. Im Deutschen gibt es mehrere Wörter für die weiße Pracht: Schnee, Harsch, Sulz, Firn. Wörter, die vielen kein Begriff mehr sind. "Es gibt aber Regionen in Deutschland, wo diese Wörter relativ weit bekannt sind", sagt der Sprachforscher Stefanowitsch. "Hier in Hamburg kennt man die nicht unbedingt, da haben wir verschiedene Wörter für Regen."

Tatsache aber ist, dass die Inuit und die Deutschen eine vergleichbare Anzahl an Wörtern für Schnee haben. "Natürlich ist anzunehmen, dass sie mehr über verschiedene Arten von Schnee wissen", sagt Stefanowitsch, "wie auch ein regelmäßiger Skifahrer. Der muss auch wissen, bei welcher Schneedecke es sich gut fahren lässt." Nur: Für verschiedene Arten von Wahrnehmungen muss es nicht automatisch verschiedene Wörter geben. Wer kreativ ist, hat viele Wörter für Schnee. Kann sich welche ausdenken für grauen Schneematsch oder vereisten Schnee, der einen morgens auf der Windschutzscheibe nervt. Egal in welcher Sprache.