Zimmer im Krisenbereich: Wer gar nicht mitspielt, wird vorübergehend eingeschlossen Foto: Piechowski

Acht Ausbrecher in vier Monaten: Die Bilanz der forensischen Psychiatrie in Zwiefalten klingt nicht gut. Längst läuft die Debatte über die Schuldfrage. Doch die Klinik will sich diesen Schuh nicht anziehen und verweist auf grundsätzliche Probleme, die es zu lösen gelte. Ein Besuch vor Ort.

Zwiefalten - In der Nacht zum 10. April wird der Albtraum eines jeden Psychiatrie-Mitarbeiters wahr. In der Klinik in Zwiefalten stürmt ein Patient, ein verurteilter Gewalttäter, auf zwei Beschäftigte zu. Er bedroht die Frau und den Mann mit einem Küchenwerkzeug, zwingt sie in einen Raum des Personalbereichs, wo es ein Messer gibt. Damit setzt er seine Flucht fort. Bei der Geiselnahme stößt er Todesdrohungen aus, erpresst so den Weg in die Freiheit. Von dem 37-Jährigen fehlt nach wie vor jede Spur.

Der Fall ist nicht nur deshalb spektakulär, weil dabei Menschenleben bedroht worden sind. Sondern auch, weil er in Zwiefalten bereits der dritte Ausbruch binnen weniger Monate gewesen ist. Im Dezember, Februar und jetzt sind dabei acht Straftäter geflüchtet, die dort in der forensischen Psychiatrie untergebracht gewesen sind. Statt ihre Haftstrafen im Gefängnis zu verbüßen, sollten sie ihre Suchtprobleme in den Griff bekommen. Streng bewacht – und doch in der Lage, zu fliehen. Während es den ersten beiden gelang, bauliche Hürden zu überwinden, Scheiben fachmännisch auszubauen und Sicherheitstüren hinter sich zu lassen, griff der Rest zu Drohungen und Gewalt. Sieben sind inzwischen wieder eingefangen.

„Aus dem Fenster da oben haben sich zwei der Ausbrecher abgeseilt. Ich würde mich das nicht trauen“, sagt Hannes Moser und schaut an der Wand hinauf. Der Chefarzt der forensischen Psychiatrie steht vor einem Gebäude, das den diffusen Eindruck, den man meist von einer solchen Einrichtung hat, so gar nicht bestätigen will. Die suchtkranken Straftäter sind in Zwiefalten am Südrand der Schwäbischen Alb in fast schon idyllischer Umgebung untergebracht. Die Räume befinden sich im früheren Benediktinerkloster. Direkt angrenzend ragen die Türme des berühmten Münsters in den Himmel. Ein Platz für Touristenfotos. Keiner für gefährliche Schwerverbrecher.

Nicht mal jeder zweite ist ein Gewaltverbrecher

Bei diesem Begriff zuckt Moser zusammen. Das landläufige Bild vom durchgeknallten Kriminellen will er so nicht stehen lassen. Denn von den rund 70 Patienten, die jeweils zeitgleich in seiner Abteilung sitzen, ist nicht einmal jeder Zweite ein Gewaltverbrecher. Viele sind wegen Drogendelikten, Beschaffungskriminalität oder Einbrüchen verurteilt. Gemein ist ihnen, dass ihnen Suchtprobleme attestiert werden, die zu Straftaten führen. Zwei Drittel von ihnen haben mit Drogen zu tun, der Rest mit Alkohol. Die Hälfte hat Migrationshintergrund.

Moser fischt einen Chip aus der Tasche. Nur damit lassen sich die Türen öffnen. Hinein geht es durch eine Sicherheitsschleuse. Videokameras überwachen das Gelände und relativieren auf den zweiten Blick den idyllischen Eindruck. An den Fenstern sind Panzerglasscheiben befestigt. Eine Klinik, ja, aber auch ein Gefängnis. Im Innenhof versammeln sich gerade einige Insassen zum Hofgang. Manche dürfen dort ohne Aufsicht sein und Badminton spielen, andere nicht.

Wer hier eine erfolgreiche Therapie absolviert, braucht dafür mindestens zwei Jahre. Etwa die Hälfte der Leute wandert bereits vorher zurück ins Gefängnis. Der Rest durchläuft neun Stufen, in deren Verlauf die Sicherheitsregeln immer mehr gelockert werden. Stufe drei etwa lautet „einzelbegleitete Ausführung ohne Handschließen“. Später geht es auch mal zur Gruppenwanderung nach draußen. „Die Leute sollen später ein normales Leben führen können. Dafür trainieren wir hier“, sagt Moser.

Die Ausbrüche beschäftigen längst die Politik

Wie viele das schaffen, darüber hat er keine Zahlen. Allerdings kämen zu regelmäßigen Treffen immer häufiger ehemalige Patienten, die den Schritt erfolgreich gemacht hätten. „Ich bin kein Sozialromantiker“, sagt Chefarzt Moser. Ihm sei klar, dass nicht jeder zu therapieren sei. Auf diejenigen, die schon in der Klinik große Schwierigkeiten machen, wartet der Krisenbereich. Schwere Türen mit Klappe, in den Zellen nur eine Matratze, ein Sitzwürfel und eine Sanitärecke. Die Fenster sind mit Panzerglas versehen, dazu elektronisch überwacht. An der Decke hängen Kameras. Manche hält selbst das nicht von einer Flucht ab.

Eine Therapie ist angenehmer als der Knast

Die Ausbrüche beschäftigen längst die Politik. Denn die Klinik in Zwiefalten hat große Unzufriedenheit geäußert. Die Richter im Land wiesen ihr immer wieder Straftäter zu, bei denen keine konkrete Aussicht auf eine erfolgreiche Behandlung bestehe. „Die aber ist laut Strafgesetzbuch Grundvoraussetzung“, sagt Moser. Er wartet mit Zahlen auf. Im Jahr 2000 seien in Baden-Württemberg etwa 150 suchtkranke Straftäter in die Kliniken eingewiesen worden. Im vergangenen Jahr seien es bereits 400 gewesen. „Die Therapie hier ist sinnvoll. Es müssen aber die richtigen Leute sein“, sagt der Chefarzt.

Das war bereits Thema im vergangenen September in einem Brief vom Sozial- an das Justizministerium, sagt Moser – Monate vor den Ausbrüchen. Die Entwicklung wundere ihn nicht, so der Chefarzt: Auch der 37-jährige Ausbrecher sei nicht für eine Therapie geeignet gewesen. Wie so mancher andere habe er wohl nur eingewilligt, um eine angenehmere Unterbringung bekommen zu können – oder eben zu türmen. Ob das so ist, darüber streitet seit Tagen die Politik.

Eine Scheibe soll künftig Besucher von Patienten trennen

Doch langsam kommt auch konstruktive Bewegung in die Debatte. Am Donnerstag haben sich die Chefärzte und Pflegedienstleiter aller Kliniken des Maßregelvollzugs in Stuttgart mit Vertretern des Sozialministeriums getroffen. „Wir haben die aktuelle Situation in Zwiefalten besprochen und auch gehört, welch kriminelle Energie die Ausbrecher für ihre Flucht entwickelt haben“, sagt Ministeriumssprecher Helmut Zorell. Dabei soll es aber nicht bleiben. Am 8. Mai wird ein weiteres Gespräch mit dem Justizministerium folgen – und dabei werden konkrete Vorschläge auf dem Tisch liegen.

Darin wird es zum einen um die Frage der Fehleinweisungen gehen. „Die Psychiatrien sollen künftig mehr über ihre Patienten erfahren, bevor sie kommen“, sagt Zorell. So könne man Sicherheitsmaßnahmen besser beurteilen. Außerdem soll es Änderungen bei der Rückverweisung von therapieunwilligen Straftätern ins Gefängnis geben. Während bisher von der Entscheidung bis zum Vollzug oft Monate vergehen, in denen sich die Betroffenen Gedanken über einen Ausbruch machen können, soll es künftig schneller gehen. „Wir wollen, dass man nicht warten muss, bis die Entscheidung rechtskräftig wird, sondern sie wie in Bayern vorläufig vollziehen kann“, so Zorell.

Aus ihrer eigenen Verantwortung stehlen will sich die Klinik in Zwiefalten nicht. „Wir haben die Pläne für mehrere Bauvorhaben fertig“, sagt Moser. Nach dem ersten Ausbruch im Dezember habe man gesagt, dass man etwas tun müsse. Eine halbe Million Euro sollen die Maßnahmen kosten. Künftig soll es mehr Zimmer geben, in denen Patienten auch mehrere Tage eingeschlossen werden können. Der weitere Ausbau der Videoüberwachung steht auf der Liste, ebenso der Umbau des Besuchszimmers für die höheren Sicherheitsstufen. Dort soll eine Scheibe künftig Besucher von Patienten trennen.

Spagat zwischen Therapie und Sicherheit

Der Spagat zwischen Therapie und Sicherheit wird so jedoch nicht einfacher. „Je ausbruchssicherer die baulichen Gegebenheiten sind, desto mehr steigt das Risiko, dass Täter über die Mitarbeiter versuchen, hier rauszukommen“, fürchtet Moser. Das ist kein angenehmer Gedanke für die 90 Ärzte, Therapeuten, Pfleger und Schwestern, die in der Abteilung beschäftigt sind. „Noch finden wir Personal. Viele schätzen es, dass man hier längerfristig mit den Patienten arbeiten kann“, sagt der Chefarzt. Zudem gebe es noch Rückhalt im Ort.

Das könnte sich ändern, falls noch einmal ein Patient zum Küchenwerkzeug greifen sollte. Das will die Klinik in Zwiefalten unbedingt verhindern. „Unser Ziel muss sein“, sagt Moser, „dass die Leute nach ihrer Therapie bei uns weniger gefährlich sind.“