Das sogenannte „Loch“ beim Märtishof – hier trug sich am 22. April 1945 Schreckliches zu. Foto: Ute Scholz

Genau 80 Jahre ist es her, dass der Dobel des Märtishofs, das sogenannte „Märtis’ Loch“, Schauplatz eines schrecklichen Ereignisses wurde: Etwa 50 unbekannte Personen wurden hier am 22. April 1945 erschossen. Bis heute ist das Geschehen nicht abschließend aufgearbeitet. Eine Spurensuche.

April 1945. In den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs in St. Georgen überschlagen sich die Ereignisse. Französische Soldaten marschieren ein; dann wieder kehren deutsche Truppen in die Bergstadt zurück. Plünderungen versetzen viele in Angst und Schrecken. Eine unübersichtliche Gemengelage, die sich über mehrere Tage erstreckt – und schließlich vor genau 80 Jahren in Schrecken gipfelt: Im „Märtis’ Loch“ erschießen deutsche Soldaten am 22. April 1945 etwa 50 Personen.

 

Vertreter der Projektgruppe „Das Dritte Reich und wir“ haben auf Grundlage von Zeitzeugenberichten und historischen Quellen die Chronologie der Ereignisse rekonstruiert. Viele Fragen, betonen sie, bleiben jedoch bis heute offen.

20. April 1945

Vermutlich sind es russische Gefangene, die am Vormittag von Triberg her über Nußbach bis nach St. Georgen geführt werden. Die Menschen sind ausgehungert und abgemagert, tragen abgelaufene Schuhe und gelbe russische Soldatenmäntel. Wie viele Personen genau die etwa 70 Bewacher über die Sommerau nach St. Georgen lotsen, ist nicht eindeutig überliefert: Mehrere Quellen nennen 400 Personen, Zeitzeugen schätzen die Zahl eher auf 100.

Sicher scheint: Die Gefangenen leiden Hunger. Bei ihrer Rast auf der Sommerau essen sie das Gras vom Boden, berichten Zeugen später. Als sie ihr Ziel, die Halle des Turnvereins, erreichen, verschlingen sie die Kartoffeln, welche die Frau des Hausmeisters für sie kochen soll, sogar roh.

Dann überschlagen sich die Ereignisse: Im Laufe des Tages nehmen französische Truppen St. Georgen ein. Sie führen nicht nur die Bewacher der Gefangenen in der Turnhalle ab, sondern befreien auch die Zwangsarbeiter, die in den Baracken des sogenannten „Russenlagers“ untergebracht sind.

Am Abend schließen sich die Gefangenen aus der Turnhalle und die Zwangsarbeiter aus dem „Russenlager“ – Letztere wurden von den französischen Soldaten teils mit Waffen ausgestattet – zusammen. Plündernd ziehen sie durch die Stadt, woran sich wohl auch Bergstädter beteiligen. Einige Gefangene und Zwangsarbeiter verschanzen und verstecken sich in der Stadt. Der Großteil kehrt aber ins „Russenlager“ und in die Turnhalle zurück. Dort wird gefeiert, getrunken und gegessen.

21. April 1945

Am Morgen reißen die Plünderungen noch immer nicht ab; am Nachmittag fallen ihnen auch Privathäuser zum Opfer. Noch 30 Personen – Schilderungen zufolge Russen – befinden sich in der Turnhalle. Die anderen sind in der Stadt verstreut.

Am Abend rücken die französischen Soldaten, die am Vortrag nach St. Georgen gekommen waren, größtenteils ab und ziehen sich nach Peterzell zurück. Nur wenige bleiben in der Bergstadt.

22. April 1945

Deutsche Soldaten – möglicherweise SS-Truppen – nutzen am Sonntag den Rückzug der Franzosen: Sie nehmen die Bergstadt wieder ein. Mit Zwangsarbeitern des „Russenlagers“ liefern sie sich ein Gefecht, bei dem viele sterben oder verletzt werden. Am Ende unterliegen die Zwangsarbeiter. Die Überlebenden werden zusammen mit den in der Turnhalle verbliebenen Gefangenen und einem St. Georgener festgesetzt. Durch die Stadt führen Soldaten die Gruppe von etwa 70 Personen – Landarbeiter, Russen in gelben Mänteln und französische Zwangsarbeiter – in Richtung Sommerau. Von Kindern lassen die Soldaten sich mit Spaten und Pickeln ausstatten.

Den Arbeiter „Wilhelm Walter“, der die Plünderungen angeführt haben soll, erschießen die Männer bereits in der Garage des Gasthauses Sommerauerhof. Ein Teil der Gruppe, etwa 50 Personen wird dann in den „Dobel“ beim Märtishof, das sogenannte „Loch“ geführt, für den Rest geht es über die Sommerau nach Triberg.

Was aber passiert dann im „Märtis’ Loch“? Im Dobel müssen die Gefangenen eine Grube ausheben. Oberhalb war vermutlich bereits ein Maschinengewehr installiert, mit dem die Soldaten auf die Gruppe schießen. Nur vier Personen entgehen dem Tod – drei von ihnen können fliehen, einer, der wohl aus der Ukraine stammende Arbeiter „Wassil Soss“, entgeht den Schüssen, indem er sich zu Boden fallen lässt. Als die Soldaten die toten Gefangenen in die Grube werfen und den Mann lebend finden, muss er helfen, die Opfer notdürftig zu begraben.

Mai 1945

Christian Fleig, damaliger Eigentümer des Märtishofs, der die Geschehnisse des 22. Aprils aus der Ferne beobachtet hat, begibt sich nach der Schneeschmelze im Mai – Ende April hatte es noch einmal geschneit – ins „Märtis’ Loch“. Er entdeckt die nur unzulänglich verscharrten Körper: Stiefelspitzen und Köpfe schauen noch aus dem Boden. Nachdem er das Geschehen bei den französischen Besatzern anzeigt, werden die Opfer ein erstes Mal umgebettet – in eine Grube auf der anderen Talseite.

April 1946

Wilhelm Haas, Bürgermeister von Brigach, meldet das Grab im Dobel beim Märtishof, nachdem die Kreisgemeinden dazu aufgefordert wurden, bislang nicht gemeldete Massen- beziehungsweise Kriegsgräber zur Anzeige zu bringen. Haas spricht 1946 von 46 nicht identifizierten Russen, später, im April 1950, von 50 Personen.

März 1950

Die Opfer werden im Beisein eines russischen Arztes exhumiert und auf den „Russischen Ehrenfriedhof“ in Donaueschingen überführt. Dort werden sie in einem Massengrab begraben.

Juli 1987

Die Staatsanwaltschaft Ludwigsburg führt eine Untersuchung wegen Kriegsverbrechen durch, die aber ohne Ergebnis eingestellt wird: An der Erschießung beteiligte Personen oder eine Einheit können identifiziert werden.

Was bis heute unklar ist

Viele Fragen zu Opfern und Tätern sind noch immer offen. „Bis heute ist dieses durch Angehörige der SS und/oder der Wehrmacht verübte Unrecht nicht aufgeklärt, und Verantwortliche lassen sich wohl auch nicht mehr ermitteln“, zieht die Projektgruppe Bilanz. Wünschenswert wäre aus ihrer Sicht eine Erinnerungstafel am sogenannten „Loch“, um an die namenlosen Opfer zu erinnern.

Die Quellen

Überblick
Neben verschiedenen Schriftstücken und Interviews mit Zeitzeugen stützen sich die Recherchen der Projektgruppe vor allem auf zwei Quellen: eine Untersuchung der Staatsanwaltschaft Ludwigsburg zu den Ereignissen sowie das Buch „Ausweglos...!: Letzter Akt des Krieges im Schwarzwald, in der Ostbaar und an der oberen Donau Ende April 1945“ von Hermann Riedel aus dem Jahr 2011.