Christine Neumeisters Stelle bei "Chance²" wird von Tobias Grimm, Geschäftsführer von Coating Visions in Rottweil, finanziert. Foto: Heinig

"Nimm doch den größeren Topf, Schätzchen". Christine Neumeister steht neben einem Achtklässler, der sie um Haupteslänge überragt, ihren Rat aber annimmt. "Die Kochmama", wie sie liebevoll genannt wird, ist für den Schulverweigerer zur wichtigen Bezugsperson geworden.

Villingen-Schwenningen - Die Zahl der Schulpflichtigen, die den Schulbesuch verweigern, steigt bundesweit. Die Coronapandemie hat das Problem noch verschärft.

Belastende familiäre Verhältnisse, Sprachprobleme, aber auch die Schule selbst oder der Einfluss von Freunden und Klassenkameraden können die Ursache sein. Abhilfe verspricht im Schwarzwald-Baar-Kreis das Projekt "Chance²", das vom Staatlichen Schulamt, der Stiftung "Lernen-Fördern-Arbeiten", dem Europäischen Sozialfonds und der Agentur für Arbeit schon vor der Pandemie aufgelegt und im Januar 2021 mit acht Jugendlichen endlich gestartet wurde.

Förderverein gegründet

Um die auf zunächst drei Jahre angelegte Finanzierung zu stützen, wurde ein Förderverein gegründet. Ralf Schneider vom Staatlichen Schulamt macht keinen Hehl daraus, dass das Projekt auch von Spenden und Sponsoring aller Art getragen wird. Diesmal ist es Tobias Grimm, Geschäftsführer von Coating Visions, der Hilfe mitbringt. Das Rottweiler Unternehmen wird ein Jahr lang das 520-Euro-Entgelt von Christine Neumeister übernehmen.

In der Bickebergstraße

Die das Projekt begleitenden Lehrkräfte Manuel Seeger und Katja Scheele sowie die Sozialpädagoginnen Janina Frech und Anja Ströbel-Kotuljac haben die Mutter erwachsener Kind längst ins Herz geschlossen – und nicht nur sie. Die Jungen und Mädchen, die bei "Chance²" in der Villinger Bickebergstraße mindestens ein halbes Jahr verbringen, täglichen Unterricht in Mathematik und Deutsch erhalten, aber auch gemeinsame Freizeit gestalten und zusammen kochen und essen, lieben die immer gut gelaunte Frau.

Sie erfahren Wertschätzung

Für Manuel Seeger hat sich "Chance²" bislang bewährt. Die zwölf- bis 15-Jährigen erfahren hier – manchmal erstmals – Wertschätzung. "Sie haben vergessen, was sie können", sagt er. Den meisten gehe es nicht gut damit, dass sie die Schule nicht besuchen. "Wir nehmen erst einmal den Stress raus".

Schulabschluss geschafft

Die anschließende Rückschulphase fiel bislang überwiegend positiv aus, will heißen, dass die ehemaligen Schulverweigerer an ihre oder eine andere Schule zurückkehrten und einen Schulabschluss hinlegen. Rückfälle gebe es aber auch immer wieder, "alles können wir nicht richten", sagt Seeger.

Sie ist in ihrem Element

Christine Neumeister ist derweil ganz in ihrem Element. Genau genommen war es sogar ihre eigene Idee, bei "Chance²" anzuheuern. Das Projekt kennengelernt hat die Jungrentnerin an ihrem ehemaligen Arbeitsplatz beim Staatlichen Schulamt in Donaueschingen. Dort hatte sie sich als Zuständige für die Schulfremdenprüfung schon mit teilweise problematischen Biographien auseinanderzusetzen.

Ursachen der Schulverweigerung

Die vielschichtigen Ursachen für Schulverweigerung, die am häufigsten in einem prekären Elternhaus zu finden sind, beschäftigten sie schon immer. Deshalb möchte sie auch in ihrem Ruhestand helfen. Mit ihrer unkomplizierten und liebevollen Art der Begleitung hat sie die Jungs und Mädchen bei "Chance²" um den Finger gewickelt. Wichtig sei ihr, sagt sie, dass die Jugendlichen so viel wie möglich selbst machen. "Das können die – ich stehe nur dabei", sagt sie und lacht.

Es braucht Sponsoren

Auch Ralf Schneider ist von der Sinnhaftigkeit des zunächst befristeten Projektes überzeugt und wünscht sich, dass es nach dessen Ende 2023 damit weitergeht. Ihm schwebt eine mehrjährige, von Studien begleitet Erprobungsphase vor, um den Erfolg von "Chance²", auch verifizieren zu können. Dazu werde es aber stets Sponsoren brauchen. Die Suche danach hat der Förderverein längst verinnerlicht und kann bereits auf einige Hilfen aus Industrie und Wirtschaft bauen. So wie jetzt auch auf das Engagement von Tobias Grimm.