Was ist ein Menschenleben wert? Wenn es um ein zwölfjähriges Mädchen in der zentralanatolischen Provinz geht, lautet die Antwort: vier Kühe.

Istanbul - Der Fall der kleinen Kübra erschüttert derzeit die Türkei. Er zeigt, dass viele türkische Familien ihre Töchter immer noch vor allem als Ware für die Verheiratung betrachten - insbesondere auf dem Land. Moderne Gesetze in Ankara ändern daran nicht viel.

Der Leidensweg von Kübra - der wahre Name des Mädchens wird von den Behörden nicht preisgegeben - begann im vergangenen Jahr. Der 29-jährige Bauarbeiter Kamber Bostan suchte eine Braut. Sükrü A. hatte seine zwölfjährige Tochter zu vergeben. Die beiden einigten sich auf den Preis von vier Kühen.

Das türkische Gesetz erlaubt zwar Eheschließungen erst ab dem 17. Lebensjahr und auch mit richterlicher Ausnahmegenehmigung frühestens mit 16, doch das interessiert viele türkische Eltern nicht. Ihr Ausweg besteht in einer sogenannten Imam-Ehe: Der Bund wird von einem islamischen Geistlichen geschlossen. Sie hat zwar gesetzlich keine Gültigkeit, bei den Menschen auf den Dörfern aber schon.

So wurde Kübra dem 17 Jahre älteren Bostan zur Frau gegeben. Sie zog mit ihm in die Hauptstadt Ankara, wo sie bald schwanger wurde. Dann allerdings bekam das Paar Streit, und Kübra kehrte zu ihren Eltern zurück. In ihrem Heimatdorf Kobagali in der Provinz Corum wurde sie allerdings nicht mit offenen Armen empfangen. Sükrü A. und verprügelte seine Tochter nach ihrer Rückkehr immer wieder. Im Dezember wurde Kübra plötzlich ohnmächtig. Im Krankenhaus stellte sich heraus, dass ihr ungeborenes Kind im Mutterleib gestorben war.

Unterdessen suchte Sükrü A. weiter nach einem Mann für seine Tochter. Er wurde schnell fündig. Kurz nach Neujahr meldete sich der 20-jährige Gökhan Türk bei ihm. Türk, der in einem Lokal in der nahen Kreisstadt Sungurlu als Kellner arbeitete, gab vor, früher mit Kübra befreundet gewesen zu sein. Er erklärte sich bereit, 10.000 Lira (umgerechnet 4800 Euro) Brautgeld für Kübra zu bezahlen. Er zahlte 3000 Lira (1400 Euro) an, und Kübra zog zu ihm.

Auf die verbleibenden 7000 Lira wartete Sükrü A. allerdings vergeblich. Vor einigen Tagen stattete er dem Kellner deshalb einen Besuch ab und verlangte das Geld - doch Türk wollte nicht zahlen. Die beiden und weitere Verwandte beider Seiten gerieten sich so heftig in die Haare, dass die Polizei anrückte und die Streithähne auf die Wache brachte. Als sich dort herausstellte, was hinter der Schlägerei steckte, nahmen die Beamten sieben Verdächtige fest, darunter die Eltern von Kübra, den potenziellen Gatten Türk sowie die Eltern des ersten Ehemanns. Nach dem 29-Jährigen selbst wird noch gefahndet. Sükrü A. und Türk kamen wegen des Verdachts auf Kindesmisshandlung in Untersuchungshaft.

Dass so etwas im Jahr 2010 noch geschehen könne, sei eine "Schande", sagte Landrat Hulusi Sahin. Doch selten sind Schicksale wie das von Kübra nicht. Die bekannte türkische Sängerin Sezen Aksu hatte das Leid eines viel zu früh zwangsverheirateten Mädchens schon in den 1980er Jahren in dem Lied "Ünzile" beschrieben - "Ünzile" sei traurige Wirklichkeit geworden, kommentierten jetzt türkische Medien.

Seit Jahren bemühen sich Hilfsorganisationen und Behörden in der Türkei darum, den Mädchen auf dem türkischen Land zu helfen. Mehrere Zehntausend von ihnen werden von ihren Eltern nicht zur Schule geschickt. Schulbildung für Mädchen gilt als Luxus, weil sie ohnehin so früh wie möglich verheiratet werden sollen. Öffentliche Kampagnen sollen das ändern.

Der jüngste Fall verdeutlicht, wie schwer es ist, die Mentalität der Menschen zu ändern. Für viele Mädchen gibt es nach wie vor keine Perspektive außer der Aussicht auf eine frühe Eheschließung. Es ist nicht einmal sicher, ob Kübra auf eine bessere Zukunft hoffen darf, nach allem, was sie durchgemacht hat: Die Behörden haben entschieden, das Kind an seine Familie zurückzugeben.