Die Zukunft der zurückgelassenen Ortskräfte ist ungewiss. (Symbolfoto) Foto: Uwe Anspach/dpa

Schutzkräfte aus Afghanistan abziehen und gleichzeitig die Schutzbedürftigen zurücklassen - das bewerten Astrid Sterzel und Veronika Herz von dem Verein Refugio Villingen-Schwenningen als "bitter" und einen "Verrat" an den Menschen. Die beiden Frauen sind überzeugt, dass dieses Vorgehen uns auch hier in Deutschland auf die Füße fallen wird. 

Villingen-Schwenningen - "Unter dem Strich haben wir nicht gehandelt", blickt Refugio-Geschäftsführerin Sterzel auf die vergangenen Monate zurück. Refugio nimmt sich als psychosoziales Zentrum traumatisierten Geflüchteten an. Deutschland habe ein halbes Jahr in dem Wissen um den Abzug der amerikanischen Streitkräfte verstreichen lassen, ohne aktiv zu werden. Stattdessen hätten sich die Mühlen der Bürokratie in dieser Zeit überhaupt nicht bewegt. So habe es keine beschleunigten Verfahren bei der Zusammenführung von afghanischen Familien gegeben. "Wir haben die Schutzbedürftigen nicht rausgeholt, wir haben unsere Bürokratie weiter walten lassen", klagt Sterzel. "Wir haben als westliche Welt versagt und die Menschenrechte verraten", so ihre persönliche Einschätzung der Vorkommnisse.  

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"Das ist schon bitter, das sorgt für tiefe Verzweiflung bei den Menschen", ergänzt Sozial- und Traumapädagogin Herz. Das psychosoziale Zentrum hat seit der Machtergreifung der Taliban versucht, Familienmitglieder von Refugio-Klienten außer Landes zu bekommen. Mit großem Aufwand seien alle dafür erforderlichen Dokumente gesammelt und dann aufbereitet worden. Vergeblich. Beim Auswärtigen Amt sei niemand ans Telefon gegangen und auch die Kontaktaufnahme zu Politikern der SPD und der Grünen blieb ohne Ergebnis. "Von den Angehörigen hat es bisher keiner rausgeschafft." Stattdessen bangten die Menschen, die in den vergangenen Jahren als Ortskräfte der ausländischen Truppen tätig waren, nun um ihr Leib und Leben. Genauso wie ihre Familien. "Da sitzen Kinder und Frauen, die ungeschützt sind", klagt Herz. "Da herrscht riesige Angst."

Drohende Radikalisierung

Dass die Menschen, die den Prozess der Demokratisierung in Afghanistan unterstützt haben, jetzt im Stich gelassen werden, sei für diese Personen eine Traumatisierung, meint Herz. Ein "von Menschen gemachtes Trauma". Wenn man diesbezüglich jetzt nicht handele, könne das Deutschland noch "um die Ohren fliegen", sagt sie und warnt vor einer drohenden Radikalisierung der Zurückgelassenen. Sterzel ergänzt: "Das ist doch ein Zirkel der Radikalisierung." 

Und nicht nur im Mittleren Osten fürchten die beiden Frauen eine Radikalisierung. Ohne Aufklärung über die Begebenheiten in Afghanistan fürchten die Refugio-Verantwortlichen auch einen Rechtsruck in der deutschen Gesellschaft. Nur wenn man die Karten auf den Tisch lege, könne man für die Flüchtlinge Akzeptanz schaffen. Deshalb ist es laut Sterzel wichtig, endlich anzuerkennen, "was dort seit Jahren vor sich gegangen ist". Es sei erforderlich zu benennen, dass die Bevölkerung in Afghanistan aufgrund der Taliban und anderer Terrororganisationen in einer verheerenden Situation sei. 

Bleibe-Perspektive gefordert

Sterzel fordert, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) aktiv wird. Statt der aktuell ausgesetzten Asyl-Entscheidungen hofft sie für die afghanischen Geflüchteten in Deutschland auf das Signal: "Ihr dürft hier bleiben." Es sei wichtig, die schlimme Situation bei ausstehenden Asylverfahren in Deutschland als Asylgrund zu akzeptieren. Dazu gehört für Sterzel auch, dass der Familiennachzug "wirklich mal Fahrt aufnimmt".

Eine Bleibe-Perspektive fordert die Refugio-Geschäftsführerin nicht nur für die afghanischen Flüchtlinge, die bereits in Deutschland sind. Jetzt, da die Luftbrücke beendet ist, seien Aufnahmeprogramme erforderlich - ähnlich dem baden-württembergischen Hilfsprogramm für Jesidinnen, appelliert Sterzel. Die 40.000 bis 50.000 zurückgelassenen Schutzbedürftigen müssten die Möglichkeit bekommen, auf sicherem Weg nach Deutschland und Baden-Württemberg zu gelangen. Dahingehend seien Fluchtkorridore erforderlich.