Elisabeth Marsh vom Kreisarchiv Freudenstadt vor den Akten des einstigen Kreisflüchtlingslagers Freudenstadt, das auf dem Gelände der ehemaligen Glasfabrik Böhringer stand. Foto: Sannert

Nach dem zweiten Weltkrieg existierte eine Flüchtlingsunterkunft. In kurzer Zeit eingerichtet.

Von 1946 bis 1960 gab es in Freudenstadt ein Flüchtlingslager. Selbst im Kreisarchiv war dies nicht bekannt. Doch jetzt wurde ein ganzes Aktenbündel darüber entdeckt. Näheres dazu lesen Sie in unserem (SB+)Artikel.

 

Freudenstadt - Im Kreisarchiv liegen viele Akten, die noch nicht verzeichnet sind. "Wir arbeiten uns da durch, schauen sie uns an und nehmen sie in unser Programm auf", erklärt Elisabeth Marsh. Bereits 1961 hatte das baden-württembergische Innenministerium entschieden, dass die Akten über das Kreisflüchtlingslager Freudenstadt nicht weiter aufgehoben werden müssen. Sie könnten "kassiert", sprich vernichtet werden.

Das Landratsamt war dieser Aufforderung jedoch nicht gefolgt und hatte das neun Ordner umfassende Paket dennoch aufbewahrt und dem Kreisarchiv übergeben. Es enthält Lage- und Baupläne, einen umfangreichen Schriftverkehr mit Behörden, Telegramme mit Ankündigungen zahlreicher Flüchtlingstransporte samt Transportlisten, Rechnungen über die Lieferung von Nahrungsmitteln oder über Auftragsarbeiten und Dienstleistungen.

Die Archivarin wurde neugierig und schaute sich alles ganz genau an. Am Ende entschied sie sich, die Akten über das Kreisflüchtlingslager Freudenstadt nicht nur aufzubewahren, sondern darüber einen Artikel im Jahrbuch für den Landkreis Freudenstadt zu schreiben. Die Glashütte, ein Großbetrieb auf dem einstigen Industrieareal nahe des Freudenstädter Hauptbahnhofs, so fand sie heraus, musste 1930 ihren Betrieb aufgeben. Lange Zeit standen die Gebäude leer, bis die Wehrmacht eines davon als Pionierlager und Reservelazarett beanspruchte.

Lager auch in Calw, Wildberg und Hechingen

Um dem Flüchtlingsstrom aus dem Osten, den der Zweite Weltkrieg ausgelöst hatte, Herr zu werden, wurden in Württemberg sogenannte Grenzauffanglager eingerichtet. Diese beherbergten zudem Ausgewiesene und Deutsche, die aus Internierungslagern entlassen wurden. Von den Grenzauffanglagern wurden die Menschen in Landesdurchgangslager gebracht und schließlich einzelnen Landkreisen zugeteilt. Dort wurden Kreisflüchtlingslager eingerichtet.

Neben dem Lager in Freudenstadt im Gebäude Langenau 12, gab es in der Region drei weitere: in Calw, Wildberg und Hechingen. Jedes der Lager sollte 150 Flüchtlinge aufnehmen. In Freudenstadt waren es meist mehr. Elisabeth Marsh weiß von bis zu 170 Menschen, die gleichzeitig im Lager untergebracht waren.

Um das Lager für die Ostflüchtlinge innerhalb kurzer Zeit einzurichten und es mit dem Notwendigsten auszustatten, hatte sich das Landratsamt unter anderem an die Firma Bürkle gewandt, die im Mai 1946 Holzmöbel lieferte. Weitere Einrichtungsgegenstände kamen aus dem Hotel Waldlust hinzu. Vom Hotel Adler durfte man sich, so ist es in den Akten vermerkt, unter anderem zwei Schnabeltassen, ein paar Gewichtssteine und einen Fleischspaltklotz ausleihen.

Vier Quadratmeter pro Bewohner

Das Inventar wurde mit Einrichtungs- und Alltagsgegenständen aus früheren Arbeitsdienstlagern und aus Lagern der Militärverwaltung aufgestockt. Dann kamen die ersten Flüchtlingszüge nach tagelanger Fahrt am Bahnhof in Dornstetten an. Eine Weiterfahrt nach Freudenstadt war zu dieser Zeit wegen der zerstörten Viadukte nicht möglich.

Mit ihren wenigen Habseligkeiten – Möbel, Bettdecken, Hühner, Hunde, Schweine, Schafe, Ziegen, Kaninchen und ganzen Bienenstöcken – wurden die Menschen, darunter viele Kinder, ins Kreisflüchtlingslager gebracht. Ihren geretteten Besitz verstauten sie im Lagerschuppen. Trotz eines Verbots durften sie ihre Tiere behalten.

Bevor die Flüchtlinge auf die 19 Schlafräume verteilt wurden, mussten sie sch registrieren, ärztlich untersuchen und – wenn nötig – auch entlausen lassen. Im Lager gab es noch ein Büro, eine Bühne, einen Wäscheraum, Keller, Küche sowie einen Speisesaal. Jedem Bewohner standen laut Akten vier Quadratmeter Wohnfläche zu. Familien hatten das Glück, dass sie gemeinsam in einem Zimmer untergebracht wurden, alle anderen mussten sich mit Fremden ein Zimmer teilen. Geschlafen wurde anfangs auf Strohsäcken, später auf Matratzen.

Zu Weihnachten und Ostern gab's Kakao

"Es gab wirklich nichts. Alles war beschädigt oder kaputt", erklärt Elisabeth Marsh die ärmlichen Verhältnisse im Lager. Wenigstens die Kinder durften sich zu Ostern und an Weihnachten jeweils über einen halben Liter Kakao und ein Stück Stollen freuen. Zu dieser Zeit hatten aber auch die Menschen in Freudenstadt nicht viel zu essen. So mancher war deshalb froh, dass das Flüchtlingslager zusätzliche Arbeitsplätze bot, beispielsweise für Lagerarbeiter und Küchenhilfen, die anfangs einen Stundenlohn von 60 bis 80 Pfennigen erhielten.

Aber auch für Rotkreuzhelferinnen und Handwerker gab es etwas zu tun. Umsiedlungsamt und Arbeitsamt versuchten auch den Flüchtlingen Arbeit zu vermitteln und sie in die umliegenden Gemeinden zu verteilen. Am 30. April 1960 wurde das Kreisdurchgangslager Freudenstadt auf Anordnung des Ministeriums für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte Baden-Württemberg geschlossen.

Wie viele Flüchtlinge es insgesamt beherbergte, hat Elisabeth Marsh noch nicht zusammengerechnet. Bis 2024 sind die Namenslisten datenschutzrechtlich gesperrt.