Der Stuttgarter Geiger Michael Wieck hat auch vor der Kamera als Zeitzeuge der Nazibarbarei berichtet. Foto: Youtube/Screenshot

Lange Zeit war Michael Wieck Erster Geiger des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart. In einem Erinnerungsbuch erzählt er von den Nazijahren und dem Schicksal seiner teils jüdischen Familie.

Stuttgart - Herrlich, die deutsche Musikkultur, mag sich mancher denken, der in klassischen Konzerten sitzt. Auch Michael Wieck, zunächst Konzertmeister beim Stuttgarter Kammerorchester, dann von 1974 bis zu seiner Pensionierung Erster Geiger des Radio-Sinfonierochesters Stuttgart (RSO) wird immer wieder vor Publikum gespielt haben, in dem solche Empfindungen aufwallten. Die wenigsten dürften gewusst haben, dass der – wie der SWR nun bekannt gegeben hat – am 27. Februar im Alter von 92 Jahren Verstorbene die monströseste Seite der deutschen Kulturverehrung am eigenen Leib erlebt hatte.

Geboren wurde Michael Wieck in eine Musikerfamilie hinein, am 19. Juli 1928 in Königsberg. Beide Elternteile spielten im Königsberger Streichquartett. Dass die Großelternhäuser unterschiedliche Feiertage hielten – die Mutter stammte aus einer jüdischen Familie der Rabbiner, Baumeister und Ingenieure, der Vater aus dem christlichen Bürgertum – war zunächst kein spaltendes Thema. Mit der Machtergreifung der Nazis aber wurde das mütterliche Großelternhaus zum verhassten Teil einer angeblich „art- und wesensfremden Minderheit“, das andere blieb respektiertes Milieu. Mit einem Mal war Michael Wieck als Kind einer jüdisch-christlichen Mischehe etwas, das es nach dem Willen der Nazis überhaupt nicht geben sollte.

Auswanderung und Heimkehr

„Geltungsjude“ nannten die braunen Verbrecher einen Menschen wie Michael Wieck. Die Frage, ab wann sie auch ihn nicht bloß als Menschen dritter Klasse eingestuft hätten, sondern als zu ermordendes „lebensunwertes“ Geschöpf, bleibt nur offen, weil diese Nazibarbarei in der totalen Kriegsniederlage endete. Bis dahin hatte Wieck nicht nur Diskriminierung, Schikanen, Demütigungen und brutale Übergriffe erlebt, sondern auch die Deportation von Verwandten und Freunden. Auch mancher vermeintlich feinsinnige Liebhaber klassischer Musik gehörte nun zu den Befürworten des Massenmords. In der von der Roten Armee eroberten „Festung Königsberg“, wie die Nazipropaganda geschwärmt hatte, erlebte Wieck mit, wie grausig das Regime unterging und welchem Zorn der Sieger nun auch die Unschuldigen unterworfen waren.

Aus dem sowjetisch besetzten Teil Deutschlands, der zur DDR wurde, setzte sich Wieck 1948 nach West-Berlin ab. Er nahm dort ein Musikstudium auf und wurde schon 1953 Erster Geiger im RIAS-Sinfonie-Orchester Berlin unter der Leitung von Ferenc Fricsay. Aber in diesem Deutschland, in dem so wenige selbstkritisch zurückblicken wollten, in dem mancher Nazi-Karrierist einfach das Hakenkreuz-Armband abgestreift hatte und nun wieder als ziviler Kunstfreund auftrat, wurde es ihm unwohl – ein Unwohlsein, das sich mit dem Berliner Mauerbau 1961, mit einer neuen Art Gettogefühl, verdichtete.

Geist der Gerechtigkeit

1961 wanderte Wieck mit seiner Familie nach Neuseeland aus, wo er sieben Jahre lang als Senior Lecturer für Violine an der Universität Auckland arbeitete. Dann kehrte er nach Deutschland zurück, und fand einen Ort, an dem er heimisch werden konnte: Stuttgart. Auch das kann man als Teil der großen deutschen Schizophrenie sehen: dass die von Antisemiten geschmähten jüdischen Deutschen oft viel tiefer in der Kultur verwurzelt waren, viel mehr am Land und seinem Wesen hingen, als ihre unsäglichen Verfolger.

Michael Wieck hat dann 1988 ein hochgelobtes Erinnerungsbuch vorgelegt und seine Stimme als Zeitzeuge erhoben. In dem spröde betitelten „Zeugnis vom Untergang Königsbergs – Ein ,Geltungsjude’ berichtet“, das in einer Neuauflage beim Ch. Beck-Verlag immer noch lieferbar ist, schildert er, wie Deutschland seine eigenen Werte verriet und wie das ausging. Das Vorwort steuerte kein Geringerer als der Autor Siegfried Lenz bei, der befand: „Die Urteile, die er fällt - über die Mächtigen und ihre Mitläufer, über Opfer und Sieger, - offenbaren einen eindrucksvollen Geist der Gerechtigkeit. .... Er fragt und fragt, entsetzt manchmal, kaltblütig und auch furchtsam und mutig, und alles Fragen führt ihn immer wieder zu dem Eingeständnis, dass nur Vernunft und Toleranz eine Hoffnung für unsere Fortdauer bieten.“