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Nach ein paar Tagen in Jerusalem ist Tel Aviv wie ein freier Gedanke. Jerusalem, um das sich zwei Völker und drei Religionen streiten, ist die interessantere Stadt, sicherlich auch die faszinierendere, aber Tel Aviv macht definitiv mehr Spaß.

Tel Aviv - Nach ein paar Tagen in Jerusalem ist Tel Aviv wie ein freier Gedanke. Jerusalem, um das sich zwei Völker und drei Religionen streiten, ist die interessantere Stadt, sicherlich auch die faszinierendere, aber Tel Aviv macht definitiv mehr Spaß. „The State Tel Aviv“ (Der Staat Tel Aviv) sagen die Israelis, weil der Ort so anders ist als alle anderen in Israel und die Menschen hier wie in einer riesigen, regenbogenfarbenen Seifenblase leben. Während Jerusalem unter tausenden Jahren Geschichte ächzt, benimmt sich das gerade einmal 100-jährige Tel Aviv wie ein Teenager. Während die Stadt in den Bergen am Schabbat wie unter einem großen schweren Gebetsmantel verschwindet, lüftet sich in der Stadt am Meer dann erst der Vorhang für eine einzige große Freiluftparty.

Deshalb zieht es immer mehr junge Leute nach Tel Aviv – auch aus Jerusalem. Sie gehen auch, weil die Religion dort eine immer größere Rolle spielt. 800 000 Einwohner hat Jerusalem, gut 500 000 sind Juden, rund 200 000 sind streng religiös. Tendenz steigend. 60 Prozent aller Kinder leben in orthodoxen Familien. Das verändert auch das tägliche Leben. In manchen Wohnvierteln ist das Autofahren an Schabbat mittlerweile durch Straßensperren unterbunden, auf Bussen gibt es keine Reklame mehr, denn es gab Proteste gegen die Darstellung von Frauen. In Restaurants, die an Schabbat geöffnet haben, wurden schon randaliert.

„Ich hasse Jerusalem, man fühlt die Spannungen. Alle dort sind so ernst und nehmen sich selbst so wichtig“, sagt Gal zu mir. Sie arbeitet in einem Laden auf der Sheinkin-Street und die Blusen und Kleider, die sie verkauft, sind so bunt wie ihre Stadt – und auch ein bisschen so unbedarft und kindisch mit Mustern aus kleinen Eulen und Kirschen.

Ich bin in ihren Laden gekommen, weil ich noch ein paar Souvenirs kaufen will. Dinge, die nach Tel Aviv aussehen. Gal schleppt ein Teil ums andere in meine Umkleidekabine. Samthosen und pinkfarbene Blusen, Ketten mit pflaumengroßen Kugeln und Mäntel aus Kreppstoff. Dazu gibt es Tee und ihre Geschichte:

Gal ist in Tel Aviv aufgewachsen, in Jerusalem sei sie vielleicht vier- bis fünfmal in ihrem Leben gewesen. Gal hat eigentlich Kunstgeschichte studiert. Aber ihr Teilzeitjob in einer Galerie reicht nicht aus. Junge Akademiker wie die 32-jährige Gal leben in Tel Aviv oft am Rande des Existenzminimums, kommen mit zwei bis drei verschiedenen Jobs gerade mal auf 1200 bis 1300 Euro. „Viele meiner Freunde leben permanent mit überzogenem Konto“, sagt Gal.

Das Leben in Tel Aviv ist sehr teuer, allein die Mietpreise sind in den vergangenen fünf Jahren um ein Drittel gestiegen. Für ein WG-Zimmer muss man bereits etwa 500 Euro rechnen. Restaurants und Kaffees haben hier ähnliche Preise wie in Deutschland. Im vergangenen Jahr kampierten deshalb monatelang Tausende auf dem noblen Rothschild-Boulevard in Zelten. Es gab Massendemonstrationen gegen die hohen Lebenshaltungskosten. Zu viel Geld fließe in die Verteidigung des Landes, zu wenig in sozialen Wohnungsbau, sagten die Demonstranten. Die Proteste waren deshalb auch ein Ruf nach Frieden. Doch genutzt haben sie nichts.

Wenn man die Menschen in Tel Aviv fragt, was eigentlich aus der Bewegung des vergangenen Jahres wurde, dann zucken sie die Schultern. Irgendwann habe man die Zelte wieder abgebaut, verändert habe sich nichts. Und obwohl soziale Themen im aktuellen Wahlkampf eine größere Rolle spielen als in den vergangenen, werden die linken Parteien allen Umfragen zufolge auch dieses Mal wieder gegen Benjamin Netanjahu und seine Koalition verlieren. Auch in Tel Aviv ist eben nicht alles nur Eulen und Kirschen.