Bahn-Reisende stehen und sitzen im überfüllten IC. Einige sind schon auf spätere Verbindungen verwiesen worden. Foto: Holschneider

Züge verspäten sich, fallen aus oder sind überfüllt: Minister Hermann kämpft um sein Vorzeigevorhaben.

Stuttgart - Dieser Vorfall steht beispielhaft für die Zustände im Zugverkehr im Land. In Esslingen soll nach einem Medienbericht vor Tagen ein Zug des Betreibers Go Ahead nicht losgefahren sein – wegen Übergewichts. Zu viele Passagiere sollen sich in den gelben Wagen befunden haben. Die Maschine streikte. Sie nahm erst Fahrt auf, nachdem einige Fahrgäste ausgestiegen waren.

Ausgerechnet Go Ahead, ausgerechnet ein neuer Betreiber auf der Schiene des Landes, der mal wieder nicht richtig in die Spur kam.

Die Schiene – es handelt sich um das bedeutendste politische Vorhaben von Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne). Mit großen Ambitionen war der Minister nach der Regierungsübernahme durch die Grünen-Partei vor neun Jahren gestartet. Das große Ziel: Bis 2030 doppelt so viele Menschen dazu zu bewegen, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Es scheint in Gefahr zu geraten.

CDU hat den Ärger kommen sehen

Die Schiene nimmt die zentrale Rolle in Hermanns 2030er-Konzept ein. Um die Verdoppelung der Nachfrage zu erreichen, sollten die Züge im Nahverkehr besser miteinander vertaktet werden, öfter und zuverlässiger fahren, dabei komfortabler sein – und das zu für das Land möglichst günstigen Preisen.

Da der bestehende Große Verkehrsvertrag mit der DB Regio AG, einer Tochter der Deutschan Bahn, 2016 auslief, wurde die Vergabe der Schienennetze ausgeschrieben. Neue Konkurrenten traten am Markt auf, etwa Abellio und Go Ahead, und luchsten dem Marktführer DB Regio lukrative Linienbündel rund um Stuttgart ab. 2019, nach einer Übergangszeit von drei Jahren, gingen die ersten, die Stuttgarter Netze, in Betrieb.

Doch nun droht Hermann das Prestigeprojekt auf die Füße zu fallen: Züge sind überfüllt, verspäten sich, fallen aus. Solche Probleme werden von der Filstalbahn (von Stuttgart über Plochingen und Göppingen nach Ulm), der Remsbahn (Stuttgart-Aalen), der Frankenbahn (Stuttgart- Heilbronn-Würzburg), Murrbahn (Waiblingen-Schwäbisch Hall-Hessental) oder der Breisgau-S-Bahn gemeldet. Dort, auf der Ost-West-Schienenachse, wurde zum Fahrplanwechsel gar ein krachender Fehlstart hingelegt. Das Konzept mit Direktverbindung von Villingen-Schwenningen nach Freiburg funktionierte nicht. Im Juni soll die dritte Stufe der Stuttgarter Netze mit Abellio in Betrieb gehen, darunter die Relation Stuttgart-Tübingen. Ob dann bereits alles rundläuft?

Die CDU-Fraktion im baden-württembergischen Landtag hat das Durcheinander im Nahverkehr nach eigenen Angaben kommen sehen. Vor allem einen Punkt prangerte sie schon vor fast fünf Jahren, damals noch in der Rolle der Opposition, an: Die Zugkapazitäten würden nicht ausreichen, merkte die damalige verkehrspolitische Sprecherin, Nicole Razavi, an. In der Ausschreibung war mit einem Stehplatzanteil von 33 Prozent kalkuliert worden. Das Land wolle vermeintlich günstige Preise erzielen, zulasten der Komforts der Kunden, mutmaßte Razavi.

An der Meinung hat sich bei den Christdemokraten nichts geändert. Thomas Dörflinger (Waldshut-Tiengen), Chef des Arbeitskreises Verkehr bei der CDU-Fraktion, ging vor Kurzem in der Aktuellen Debatte des Landtags zur Verkehrspolitik den Koalitionspartner hart an. So hart, dass die Grünen danach verschnupft waren. "Die Zustände und das Chaos, das herrscht, seitdem die neuen Betreiber die Strecken übernommen haben, machen mich, machen unsere Fraktion fassungslos", sagte Dörflinger.

Der Grüne verweist an die neuen Betreiber

Der Landkreistag sieht bereits die Felle davonschwimmen. Pendler würden wieder verstärkt auf die Straße wechseln, meint Landkreistagspräsident Joachim Walter. Der kommunale Spitzenverband der Landkreise, die selbst Träger öffentlicher Nahverkehre sind, fordert ein hartes Durchgreifen gegenüber den Betreibern. "Zudem sollte das Land endlich ein in sich schlüssiges Mobilitätskonzept erstellen", äußert sich Hauptgeschäftsführer Alexis von Komorowski gegenüber unserer Zeitung.

Hermann räumt Probleme ein, weist die Kritik jedoch von sich. Meist komme eben alles zusammen: neuer Betreiber mit unerfahrenem und (knappem) Personalbestand, neues Fahrplankonzept, neue und teils mit technischen Mängeln behaftete Fahrzeuge. Der Minister sieht die neuen Betreiber in der Pflicht.

Trotz der widrigen Umstände bei etlichen Zugverbindungen hält das Verkehrsressort am ehrgeizigen Ziel der Fahrgastverdoppelung 2030 gegenüber 2010 fest. "Seit den neuen Inbetriebnahmen fahren jeden Tag weit über 100 Nahverkehrszüge mehr im Netz", sagt Hermann unserer Zeitung. "Wenn allerdings die Hersteller die georderten Fahrzeuge nicht oder mit vielen Mängeln liefern oder es zu Managementfehlern bei den Betreibern kommt, ist das sehr ärgerlich und zum Schaden vieler Bahnnutzer. Als Land bestehen wir auf Vertragstreue und verlangen auch drastische Strafzahlungen."

Einige Schritte seien bereits unternommen worden: So springe die DB Regio ein, etwa bei den Go-Ahead-Strecken Stuttgart-Karlsruhe und Stuttgart-Würzburg, auch seien Fahrplanänderungen vorgenommen worden. Das Ministerium habe zudem einen Personalpool ausgeschrieben und fördere die Ausbildung von Geflüchteten zu Lokführern.

In einer Sitzung des Verkehrsausschusses des Landtags hat das Ministerium angekündigt, doch noch 220 Doppelstockfahrzeuge zu beschaffen. Diese sollen jedoch – mit Hinblick auf die Inbetriebnahme von Stuttgart 21 und das Ziel, die Fahrgastzahl bis 2030 zu verdoppeln – erst ab dem Jahr 2025 nach und nach zum Einsatz kommen.