Es ist nur eine Beleidigung, um die es in der Berufungsverhandlung vor dem Landgericht Stuttgart geht. Doch die Streithähne lassen auch hartgesottene Juristen verzweifeln.

Stuttgart - Es ist nur eine Beleidigung, um die es in der Berufungsverhandlung vor dem Landgericht Stuttgart am Mittwoch geht. Doch während sich die Streithähne als Angeklagte und Zeuge gegenübersitzen, offenbaren sich Abgründe, die auch hartgesottene Juristen verzweifeln lassen.

Am Ende kann Richter Klaus Helwerth seine Verärgerung nicht mehr zurückhalten. Der sonst besonnene Mann mit klaren Augen und kurz geschorenem Schädel lehnt sich nach vorn und erhebt seine kräftige Stimme. "Das ist alles nur Scheiße, mit der Sie Polizei und Justiz seit Jahren beschäftigen", herrscht er die Beteiligten bei der Urteilsverkündung an. Für einen kurzen Augenblick ist es ruhig im Saal. Dass ob dieses Donnerwetters bei den Protagonisten die Vernunft einkehrt, darf bezweifelt werden. Dazu stehen sich die Lager zu unversöhnlich gegenüber.

"Hallo, du Schwuchtel". Aus heiterem Himmel soll die 58-jährige Angeklagte und ehemalige Krankenschwester am 1. Mai des Jahres 2008 aus ihrem Wagen heraus ihren Nachbarn in Feuerbach beleidigt haben. Wie schon in der ersten Verhandlung vor dem Amtsgericht in Bad Cannstatt am 15. August 2009 streitet sie ab. "Ich kenne den Herrn kaum", sagt sie. Der 45-Jährige will sich als geladener Zeuge aber genau an den Tag erinnern, weil er zuvor im Waldheim Zuffenhausen einer Rede des Porsche-Betriebsratschefs Uwe Hück gelauscht hat und sich auf dem Heimweg zu seiner Wohnung befand, die etwa hundert Meter von jener der Angeklagten auf der anderen Straßenseite liegt.

Sie beschimpfen sich mit

Wie verfahren die Situation ist, wird bereits vor der Verhandlung deutlich. Da macht der Zeuge und Nebenkläger im ersten Prozess Fotos der Angeklagten. Die wiederum ruft den Pförtner zu Hilfe. Mehrere Justizbeamte schließlich nehmen dem Mann die Kamera ab und löschen die Bilder, denn Fotografieren im Gericht ist verboten. Später dann erscheint der Zeuge, der mit seiner hageren Gestalt, der gepflegten Kleidung und runden Brille fast einen intellektuellen Eindruck macht, mit einem Trolley und einer Plastik-Tasche im Saal. Daraus kramt der arbeitssuchende ehemalige Lehramtsstudent mehrere Ordner hervor, die er im Laufe der Jahre über seine Nachbarn angelegt hat. Mit gelben Zetteln hat er wichtige Stellen markiert, auch Informationen von den Miteigentümern des Nachbarhauses eingeholt, die ebenfalls mit der Angeklagten und ihrem Mann im Clinch liegen. "Ich habe schnell gemerkt, dass die einen Dachschaden haben", sagt er.

Die Liste der Streitereien ist ebenso lang wie die der Beteiligten. So ist die Angeklagte vor Jahren bereits wegen einer Attacke mit ätzendem Antihundespray auf den über ihr lebenden Miteigentümer verurteilt worden. Mit dem jetzigen Zeugen war es immer wieder zu mündlichen wie handgreiflichen Auseinandersetzungen gekommen. Die Titulierungen "Hässliches Monster", "Schwuchtel", "Drecksau" flogen munter über die Straße hin und her. Zudem hat der Zeuge bereits zugegeben, sowohl die Angeklagte als auch ihre im Gericht anwesende Untermieterin im Streit geschlagen zu haben. "Wumbatschboing, da hatte ich eine dicke Backe", beschwert sich die Angeklagte. Der Kot, der wiederum im Briefkasten des verhassten Nachbarn landete, konnte ihrem Hund nicht zweifelsfrei zugeordnet werden. "Diese Familie führt ein Doppelleben", keift der Zeuge in Richtung Ehemann.

In der Stimme des Richters Klaus Helwerth liegt ein wenig Verzweiflung, als er sagt: "Wir können hier nicht die Schmutzwäsche der vergangenen 20 Jahre waschen." Immer wieder bemüht er die Bibel, um Einsicht bei den Beteiligten zu erzielen. "Wenn wir hier nach dem Motto Auge um Auge, Zahn um Zahn weitermachen, geht das ewig". Einer müsse deshalb irgendwann zurückstecken. "Es ist unfassbar, dass hier über so lange Zeit hinweg Ressourcen gebunden sind, die anderswo dringend gebraucht werden", pflichtet Staatsanwalt Alexander Nogrady bei.

Ein Wiedersehen der Nachbarn vor Gericht ist garantiert

Gehör finden sie mit ihren Appellen nicht. Nach dem Prozess im vergangenen Jahr sind beide Parteien erst richtig zur Hochform aufgelaufen. 50 neue Anzeigen des Ehepaars sind seither beim Revier Feuerbach aufgelaufen. Der 45-Jährige hat ein Formblatt angelegt, auf dem er im Falle der nächsten Anzeige den Namen nur noch ankreuzen muss. Ein Fax des verzweifelten Polizeibeamten, der die Beteiligten schon mal zum Gespräch an einen Tisch gebeten hat, flattert während des Prozesses herein. "Ich glaube, der hat langsam resigniert", sagt Richter Klaus Helwerth und verliest die Anschuldigungen.

Auch er hat schließlich genug von dem Schauspiel vor seinen Augen. Weil Aussage gegen Aussage stehe, sei die Wahrheitsfindung schwer und die Gefahr eines Fehlurteiles hoch. Letztlich glaubt das Gericht aber den Worten des Zeugen - und lehnt die Berufung der Angeklagten ab. Die Geldstrafe von 1200 Euro wegen Beleidigung bleibt bestehen, außerdem muss sie die Kosten des Verfahrens tragen.

Ein Wiedersehen der Nachbarn vor Gericht ist jedoch garantiert. Denn die Angeklagte hat den Miteigentümer ihres Hauses wegen Körperverletzung angezeigt. Er soll sie im Treppenhaus verprügelt haben. Verhandelt wird der Fall im März vor dem Amtsgericht in Bad Cannstatt.