Der Angeklagte mit seinem Verteidiger (links) und die Richter im Landgericht Rottweil. Foto: Kupferschmidt

Am dritten Prozesstag sagt der Geschädigte aus, der bei der Messerattacke in Dornstetten fast gestorben wäre. Als er vor Gericht seine Narbe zeigt, überrascht die Reaktion des Angeklagten.

Dornstetten/Rottweil - Widersprüchliche Zeugenaussagen, das Opfer, das den versuchten Mord herunterspielt, und der Angeklagte, der von Satanskindern aus der Bibel spricht – der Prozess vom Dornstetter Messerstecher hinterlässt auch nach dem dritten Prozesstag viele Fragezeichen.

Unmittelbar nachdem der Angeklagte versucht hatte, den Untermieter des Nachbarn im Zimmer gegenüber abzustechen, hat er die Kanzlei seines Verteidigers aufgesucht. Der war allerdings gerade außer Haus, dafür war seine Angestellte vor Ort, die im Landgericht Rottweil die Situation schildert.

"Satanskinder werden alles verändern"

In der Kanzlei ist der Angeklagte kein Unbekannter, des Öfteren leihe er sich Kleindarlehen für Alkohol und Zigaretten. Aber an dem besagten Tag "war er ganz anders als sonst, er war nervös und ist ständig auf und ab gelaufen", so die Zeugin.

20 Minuten verbrachte der 45-Jährige in der Kanzlei, er habe "keine sinnvollen Sätze gesprochen". So wiederholte er sich ständig, fragte nach seinem Verteidiger und sprach vom Glauben. "Er sagte, dass die Satanskinder hinter ihm her sind und alles verändern werden." Als der Vorsitzende Richter Karlheinz Münzer genauer nachhakt, sagt der Angeklagte: "Das kann man nachlesen, so steht es in der Bibel." Durch beschwichtigende Handzeichen stoppt sein Verteidiger den Redefluss.

Tätowierte 81 hat Ähnlichkeiten mit "Hells Angels"

Eine weitere Aussage direkt nach der Tat: "Die ›Hells Angels‹ werden ihm helfen", so die Zeugin. Der 45-Jährige behauptet, im Motorrad- und Rockerclub "Member" zu sein. In seinen Nacken hat er eine 81 tätowiert – das soll die Mitgliedschaft beweisen.

Ein Polizeibeamter hat Nachermittlungen angestellt: "Die Grundart seines Tattoos sieht so aus, wie das der ›Hells Angels‹. Die 81 darf auch von Nicht-Mitgliedern getragen werden." Nur das Abbild des Totenkopfes sei ausschließlich Mitgliedern vorbehalten. Dem Landeskriminalamt in Stuttgart sei der Angeklagte als Mitglied nicht bekannt.

Geschädigter hat zum Tatzeitpunkt bei Freund gewohnt

Auch der Geschädigte glaubt nicht, dass der Angeklagte zu den "Hells Angels" gehört. Darüber lustig gemacht habe er sich trotzdem nicht, sagt er vor Gericht. "Ich weiß, dass mir etwas Schlimmes passiert, wenn man ihren Namen ins Lächerliche zieht." Der 22-Jährige ist im April bei einem Freund untergekommen, im Zimmer gegenüber des Angeklagten.

Er blickt zurück auf den Tag, an dem er beinahe gestorben wäre. An seiner Zimmertür habe am Morgen ein Zettel mit der Aufschrift "Friss oder stirb" und einer roten 81 gehangen. Dieser Zettel liegt dem Gericht nicht vor. Anschließend habe er den Angeklagten "zur Rede gestellt". Dabei seien die beiden lauter geworden. Nachdem der 22-Jährige dann wieder in sein Zimmer gegangen ist, duschte er.

Geschädigter nennt Messerattacke "Rangelei"

Doch als er aus dem Badezimmer kam, stand der 45-Jährige mit einem Messer in dem Wohnraum. Die Türen schließen die Bewohner des Hauses für gewöhnlich nicht ab. Mit dem Messer sei der Angeklagte "sofort auf mich losgegangen". Dann habe die "Rangelei" angefangen, so der Geschädigte. Wann genau der Angeklagte ihm währenddessen die Stichverletzungen zugefügt hat, kann er nicht sagen. "Ich habe erst gemerkt, dass ich verletzt bin, als mein komplettes T-Sirt voller Blut war."

Er konnte dem 45-Jährigen das Messer entreißen und ihn aus dem Zimmer werfen. Lange Zeit habe er Kampfsport gemacht und wisse deshalb, wie man jemanden entwaffnet. Anschließend habe er sich selbst mit Panzertape und Klopapier verarztet, bevor er ins Polizeirevier gegangen ist. Der Angeklagte versuchte währenddessen, sich bei ihm mit Kaffee, Zucker und einem iPhone mit einem aufgeklebten Zettel, auf dem "Sorry" stand, zu entschuldigen. Vom Revier aus wurde der 22-Jährige nach Tübingen ins Krankenhaus gebracht. "Ich habe dort erfahren, dass die Ärzte nichts mehr für mich hätten machen können, wenn ich noch mehr Blut verloren hätte."

Angeklagter entschuldigt sich

Noch immer hat er Probleme mit seinen Brustmuskeln, kann nichts Schweres mehr heben oder trainieren. Im Gerichtssaal zeigt er die sieben Zentimeter lange Narbe, die ihm von der Tat geblieben ist. Die Reaktion des Angeklagten: "Entschuldigung, ich wollte nicht dich treffen." Darauf der 22-Jährige: "Ist schon okay, ich weiß, wie dein Zustand zu dem Zeitpunkt war." Die beiden geben sich im Gerichtssaal die Hand. "Wenn ich in einem Jahr wieder draußen bin, können wir ja mal zusammen ein Bier trinken gehen", schlägt der Angeklagte vor.

Tat könnte wegen Verwechslung geschehen sein

Auf Nachfrage des Richters konkretisiert der Geschädigte den Zustand, den er mit seiner Aussage gemeint hat. Der 45-Jährige habe bereits jeden Morgen um acht Uhr angefangen zu trinken. Anzeichen, dass er während der Tat betrunken war, habe es aber nicht gegeben, so der Zeuge. Zudem habe der Angeklagte ihn oft mit einem anderen Mann aus dem Haus verwechselt. Dieser habe ebenfalls oft bei seinem Kumpel geschlafen. "Er hat zwar dieselbe Haarfarbe, aber wir sehen uns eigentlich überhaupt nicht ähnlich."

So berichtet ein Zeuge, der im selben Haus wohnt, dass der Angeklagte ein Problem mit dem anderen Mann gehabt habe und am Abend davor auf ihn wütend gewesen sei. Der 45-Jährige dachte oftmals, er kenne den Mann von früher – obwohl das gar nicht stimmt. "Er wirkt oft psychotisch", so der Zeuge über den Messerstecher. "Er verwechselt dann Sachen oder verdreht sie." Manchmal singe er auch eine ganze Nacht lang.

Freund saß während der Tat auf dem Sofa

Im Gericht wird die Zeugenaussage des Mannes verlesen, bei dem der Geschädigte untergekommen war. Er saß während der Tat auf der Couch, die Messerattacke sei allerdings zu schnell gegangen, als dass er hätte einschreiten können. Einige Aussagen widersprechen denen des Geschädigten. So beispielsweise zum Tathergang, der 22-Jährige sei in der Hocke gewesen und der Angeklagte habe ihn runtergedrückt, bevor er zugestochen habe. Er sagt auch, sein Kumpel und er hätten am Abend keinen Alkohol konsumiert, der Geschädigte sprach allerdings von "ein paar Bier". Zudem habe ein Test im Krankenhaus ergeben, dass er THC im Blut hatte.

"Exzessive, massive Wucht für Tat notwendig"

Die beiden Gerichtsmediziner geben ihre Einschätzung zur Tat. Die Wunden seien "konkret lebensgefährlich" gewesen. Der Geschädigte hätte an einem Verblutungsschock sterben können. Für die tiefen Einstiche von sieben bis zehn Zentimetern sei "eine exzessive, massive Wucht notwendig", da es nicht so einfach sei, die Haut zu überwinden. Dass der Geschädigte den Einstich des Messers nicht gespürt habe, sei nichts Ungewöhnliches. "Das hören und sehen wir oft." Der Gerichtsmediziner geht davon aus, dass der Angeklagte den 22-Jährigen seitlich verletzt hat, von oben nach vorne. Von den Positionen sei allerdings vieles möglich.

Der Prozess wird am Mittwoch fortgesetzt. Dann werden die Bewährungshelfer des Angeklagten, der Psychiater und die Mieterin aussagen.