In Dortmund erhält Marcel Schmelzer regelmäßig Bestnoten, in der Nationalelf bezieht er häufig Prügel. Dort herrscht hinten links seit Jahren große Not. Die Liga liefert keinen Nachschub.
Dublin - Bei Joachim Löw kommt es immer auch auf die Zwischentöne an. Wer da beim Bundestrainer genau hinhört, der erfährt mehr als andere. So kann es durchaus sein, dass sich hinter einem ausgesprochenen Lob versteckter Tadel verbirgt. So war das mit Löws Urteil nach dem mühevollen 2:1 gegen Österreich im September. Angesprochen auf Marcel Schmelzer sagte er über den linken Außenverteidiger nach dessen achtem Länderspiel: „Wir bringen ihm großes Vertrauen entgegen, er hat sich in Dortmund ständig weiterentwickelt.“ Das klang erst mal positiv, was er durch seinen unpersönlichen Zusatz aber relativierte: „Man wird weiter mit ihm arbeiten.“ Das wiederum klang so reserviert, wie es gemeint war. Beim Gegentor dürfe es „kein Durchkommen geben“, fügte Löw hinzu. Was Schmelzer (24) auf sich beziehen durfte. Zusammen mit dem gleichfalls zu passiven Mario Götze hatte er Marko Arnautovic das Durchkommen ermöglicht.
Die deutsche Hintermannschaft, das hat sich bis nach Irland herumgesprochen, ist nicht mehr das gefürchtete Bollwerk von einst. „Wenn wir ihre Abwehr unter Druck setzen, ist es möglich, ihnen Probleme zu bereiten. Die Abwehr scheint der Mannschaftsteil zu sein, in dem sie nicht ganz so stark sind“, sagt Marco Tardelli, Assistent des irischen Nationaltrainers Giovanni Trapattoni, vor dem WM-Qualifikationsspiel gegen die deutsche Auswahl an diesem Freitag (20.45 Uhr/ZDF) in Dublin. Das ist nicht despektierlich, es ist realistisch. Und wenn Tardelli dabei insbesondere das linke Glied in der Viererkette anspricht, wird ihm erst recht keiner widersprechen. Nicht einmal Hansi Flick, Co-Trainer der DFB-Auswahl. „Das Problem auf links begleitet uns seit mehreren Jahren. Auf dieser Position haben wir nicht die Masse an Spielern, die wir uns wünschen“, sagt der Assistent von Löw.
Es gab mal ein paar Deutsche, die auf der linken Position gestartet sind
Um genau zu sein: Auf dieser Position hat Fußball-Deutschland überhaupt keinen, der gehobenen Ansprüchen gerecht wird – von Philipp Lahm, der nach seinem Seitenwechsel wieder rechts spielt, einmal abgesehen. Auf der linken Seite verwaltet Joachim Löw nur den Mangel, und wer sich auf die Suche nach Lösungen quer durch die Bundesliga macht, der endet schnell in der Sackgasse. Da begegnen einem Spieler aus Italien (Cristian Molinaro) oder der Elfenbeinküste (Arthur Boka/beide VfB Stuttgart), aus Österreich (Christian Fuchs/Schalke und David Alaba/FC Bayern), Tschechien (Michal Kadlec/Leverkusen), Belgien (Filip Daems/Mönchengladbach), Argentinien (David Pinola/Nürnberg) oder der Schweiz (Ricardo Rodriguez/Wolfsburg). Alle mögen ihre Qualitäten haben, ihr Pass aber verbietet ihnen, für Deutschland aufzulaufen. Gleiches gilt für den Deutsch-Kasachen Heinrich Schmidtgal (Fürth) und den Deutsch-Amerikaner Fabian Johnson (Hoffenheim).
Gut, es gab mal ein paar Deutsche, die auf der linken Position gestartet sind. Doch entweder hat Joachim Löw Kandidaten wie Dennis Aogo (Hamburger SV), Clemens Fritz (Werder Bremen), Christian Pander oder Christian Schulz (beide Hannover 96) mangels Qualität aus seinem Gedächtnis gestrichen, oder sie haben von sich aus die Position gewechselt. Marcell Jansen vertrat zuletzt beim HSV zwar den verletzten Aogo hinten links, ansonsten aber hat er sich ins linke Mittelfeld oder auf Linksaußen verabschiedet, Marcel Schäfer spielt in Wolfsburgs defensivem Mittelfeld. Oder sie kommen von einer anderen Position und helfen links nur mal aus – wie Mittelfeldspieler Konstantin Rausch bei Hannover 96 und Rechtsverteidiger Oliver Sorg beim SC Freiburg. Oder, letzte Variante, sie erfüllen (noch) nicht Löws „högschde“ Ansprüche – wie der Bremer Lukas Schmitz (23), der Frankfurter Bastian Oczipka (23) oder der Dortmunder Jeremy Dudziak (17).
Deshalb ist Löw, ob er will oder nicht, auf Marcel Schmelzer angewiesen: „Ich kann mir ja keinen schnitzen“, seufzte er am Donnerstagnachmittag. Abends ruderte er aber wieder zurück: „Schmelzer gehört absolut zurecht der DFB-Auswahl an. Beim Freundschaftsspiel gegen Argentinien war er zuletzt überragend“, ließ Löw per Presseerklärung mitteilen. Dass Schmelzer kein ganz tumber Linksverteidiger ist, hat er längst in Dortmund bewiesen. Dort spielte er beim Gewinn der Meistertitel 2011 und 2012 eine teilweise überragende Rolle, mit einem großen Unterschied: Beim BVB kann er sich auf ein Kollektiv verlassen, das nach Ballverlusten aggressiv den Gegner bekämpft, in der Nationalelf kämpft er häufig allein auf weiter Flur. „Bei uns wird man als Außenverteidiger nicht alleine gelassen“, sagt BVB-Trainer Jürgen Klopp, „wenn die Bälle zuvor nicht thematisiert werden, ist der, der den letzten Fehler macht, der Depp. So haben wir in Dortmund Fußball nie verstanden. Deshalb ist Marcel bei uns gut aufgehoben.“
„Wenn man die Rolle annimmt, ist sie gar nicht so schwierig“
Dabei ist die Rolle als linker Verteidiger durchaus reizvoll, wenn man Holger Badstuber glaubt, der dort zurzeit bei Bayern München den verletzten David Alaba vertritt: „Wenn man die Rolle annimmt, ist sie gar nicht so schwierig. Man ist sehr viel unterwegs und kann für viel Wirbel nach vorn sorgen.“ Wohl dem, der kann. Oder will. Aber wer will überhaupt?
In der U-21-Auswahl herrscht ein Überangebot an rechten Verteidigern, aber ebenfalls ein Vakuum auf links. „Diese Frage werden Robin Dutt und die Nachwuchszentren der Bundesligavereine angehen“, versichert Hansi Flick. Ob der Nachschub auf links bisher vernachlässigt wurde oder die Position unattraktiv ist? Womöglich beides. Jedenfalls sagt DFB-Sportdirektor Dutt: „Noch schwieriger als die Talentförderung ist die Talentperspektive.“ Auf gut Deutsch: Es wird Jahre dauern, bis ein Talent von heute dort zum Weltklassemann reift. Bis dahin ist Schmelzer in der Nationalelf besser. Besser als nichts. Das ist wenig genug.