Tobias Rausch, Melina von Gagern und Sven Hartlep recherchieren vor Ort. Foto: Holbein Foto: Schwarzwälder-Bote

Kultur: Rechercheprojekt zum Strukturwandel auf der Schwäbischen Alb mit dem Landestheater Tübingen

Von Christoph Holbein

Die Fragen sind klar: Wie lässt sich der Kulturauftrag in der Fläche neu denken? Wie kann die Arbeit eines Landestheaters in der Region zusätzlich zum Gastspielbetrieb aussehen? Das Landestheater Württemberg-Hohenzollern Tübingen Reutlingen (LTT) hat sich deshalb aufgemacht: nach Winterlingen.

Winterlingen. Es ist der erste Schritt, die erste Phase für ein längerfristiges Projekt, das noch an einem weiteren Ort neben Winterlingen stattfinden soll: Unter dem Arbeitstitel "Die Schafe sind weg" recherchieren der Regisseur und Autor Tobias Rausch aus Berlin sowie Melina von Gagern und Sven Hartlep, beide für die Produktionsleitung zuständig, im Auftrag des Landestheaters Tübingen auf der Schwäbischen Alb, um zusammen mit der Filmakademie Baden-Württemberg aus Ludwigsburg einen Video-Hike über die Region zu produzieren. Das englische Wort hike heißt übersetzt "Wanderung", und um eine Art Wanderung geht es bei dem Pilotprojekt tatsächlich.

Auf der Basis des Elements Geo-Caching werden die Zuschauer per iPad oder Smartphone mittels GPS-Koordinaten durch die Landschaft und den Ort gelenkt, um dann an bestimmten Lokalitäten einen Video-Walk zu erleben. Im Klartext: Sie sehen auf dem Bildschirm im Video den Ort, an dem sie sich befinden, bewegen sich genau, wie das Video ihnen vorgibt, erhalten aber ins Bild Sequenzen hineininszeniert: etwa eine Balletttänzerin, die durch den Raum schwebt. Dadurch verschwimmen Realität und Inszenierung. "Der Effekt ist erstaunlich", sagt Regisseur Tobias Rausch: "Nach einiger Zeit lässt sich für den Zuschauer nicht mehr unterscheiden, was er in der Wirklichkeit beziehungsweise auf seinem Smartphone gesehen hat." Zusammen führt Rausch das mit dem dritten Element: surreales Landschaftstheater mit Vor-Ort-Installationen.

Der Zuschauer wandert mit dem Tablet-Computer durch Winterlingen und hat auf seinem Bildschirm einen Kartenausschnitt mit den GPS-Koordinaten, wo er sich gerade befindet, und denen, wohin es gehen soll, etwa zur Nähgarnfabrik. Stimmen beide Koordinaten überein, öffnet sich ein Videofenster, und das Video läuft für den Video-Walk durch diesen Ort, etwa mit einem Interview, in dem eine einstige Näherin erzählt, wie sie dort gearbeitet hat. Nach fünf Minuten endet der Film und die nächsten GPS-Koordinaten führen zum nächsten Ziel. "Es ist eine Schnitzeljagd mit Videos", so der Regisseur.

Die Einwohner werden an dem Vorhaben künstlerisch beteiligt

Geplant ist, eine App zu programmieren. Die Zuschauer leihen sich Tablets aus, um sich dann zum Thema Strukturwandel auf der Schwäbischen Alb in den Bereichen Textilindustrie, Wanderschäferei, Bio-Energie und Landwirte, Kampf um Arbeitsplätze, Infrastruktur und Fachkräfte, ärztliche Versorgung, Veränderungen in Winterlingen, Vereinsleben, Tourismus und Mobilität im ländlichen Raum auseinanderzusetzen. Auf Tour gehen sie dabei entweder zu Fuß oder mit dem ausgeliehenen Albroller.

"Wir wollen die Einwohner an dem Projekt beteiligen", sagt Rausch: Vereine, Jugendgruppen, Chor, Einzelpersonen, die über ihren Ort erzählen. Im Juli sollen die Filmaufnahmen gemacht werden, die in die App eingebettet werden: "Wir wollen das trockene Thema auf eine lebendige Art und Weise vermitteln." Gefördert wird das mit 15 000 Euro aus dem Innovationsfonds des Landes Baden-Württemberg und läuft derzeit an. Erste Kontakte mit den Menschen sind geknüpft. Dabei sind keine schauspielerischen Fähigkeiten gefragt: "Die Leute sollen authentisch sein und einfach als sie selbst sprechen." Die App soll – so ist der Plan – im Laufe des Septembers vorgestellt werden.

Eine spielerische Methode, den Ort kennenzulernen

Diese steht danach dauerhaft zur Verfügung und lässt sich auch als Werbung für die Gemeinde nutzen, etwa als spielerische Methode, die Ortsgeschichte kennenzulernen. Für das LTT ist das Projekt eine Facette der Aufgabe, Kultur in die Region zu bringen, betont Sven Hartlep: in Räumen, die das Theater noch nicht berührt hat, wo es keine Gastspiele gibt. "Auf anderer Ebene" will das LTT damit mit den Menschen vor Ort "ins Gespräch und in Kontakt kommen", um Kultur zu begreifen als etwas, "was im Dialog entsteht mit den Leuten, was mit den Bedürfnissen und den Themen vor Ort arbeitet, woran die Menschen künstlerisch mitwirken".

Dazu scheinen die Winterlinger bereit zu sein: "Wir stoßen nur auf Leute, die ›Ja‹ sagen und gerne Auskunft geben und erzählen", betont Melina von Gagern. "Die Winterlinger sind offen und interessiert. Das ist spannend, und wir hoffen, dass es so weiter geht. Wir haben hier einen Ort gefunden, an dem die vielen Themen des Strukturwandels zusammenpassen." Die GPS-Video-Tour als künstlerische Auseinandersetzung mit Winterlingen soll am Ende zwei Stunden dauern.