Rund eine Stunde im Livestream: Vize-Regierungssprecher Arne Braun und Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Baden-Württembergs Regierungschef Winfried Kretschmann sucht den etwas anderen Dialog mit den Bürgern – er stellt sich ihren Fragen bei einer Liveübertragung im Internet. Wir haben hinter die Kulissen geblickt.

Stuttgart - Als Winfried Kretschmann um 19.56 Uhr den Runden Saal der Villa Reitzenstein betritt, ist alles angerichtet. Die Scheinwerfer sind bereits an, eine Tasse Tee und ein Glas Wasser stehen für ihn auf dem Glastisch und eine Mitarbeiterin wartet, um ihn mit dem Mikrofon zu verkabeln. Der baden-württembergische Regierungschef hat zu diesem Zeitpunkt bereits einen intensiven Tag mit acht Terminen hinter sich. Vor ein paar Minuten hat er als Schirmherr bei der Vernissage der Ausstellung über den Meister von Meßkirch in der Staatsgalerie noch eine Rede gehalten.

Ohne Umschweife setzt sich Kretschmann auf einen der beiden grau melierten Sessel, dann wirft er noch einen letzten Blick in die von seinen Mitarbeitern vorbereitete Dokumentenmappe – sein Spickzettel, um sich ein paar Zahlen in Erinnerung zu rufen. Keine Minute später legt er die Mappe unter seinen Sessel – und wartet auf das Startsignal. Jana Höffner, Leiterin des Referats Online-Kommunikation und Internet im Staatsministerium und an diesem Abend für die Kameraeinstellungen zuständig, zählt herunter. „Fünf, vier, drei, zwei, eins“ – kurze Zeit braucht es, bis die Liveübertragung ins Internet steht. Die sechste Online-Bürgersprechstunde mit Kretschmann beginnt.

Online-Bürgersprechstunde ist ein bundesweit einmaliges Format

Bei dem Format, das es seit April 2013 gibt und das bundesweit einmalig ist, beantwortet der grüne Ministerpräsident eine Stunde lang Fragen, die Bürger vor und während der Sendung über ein Formular auf der Webseite des Staatsministeriums oder über Kretschmanns Fanseite im sozialen Netzwerk Facebook stellen. Viele Fragen sind seriös und ernst gemeint, manche abseitig und privat, wenige abstrus. Ein Team aus einem ganzen Dutzend Ministeriumsmitarbeitern sitzt im Saal hinter ihren Laptops und filtert die Fragen vor: sind die Inhalte sexistisch, rassistisch, gewaltverherrlichend oder beleidigend, werden sie gelöscht. Alle anderen Anliegen sortieren die Mitarbeiter in Themenblöcke. Letztlich sind es auch sie, die die Auswahl treffen, welche Fragen live gestellt werden. Über ein spezielles Programm werden die ausgewählten Fragen auf dem Tablet von Vize-Regierungssprecher Arne Braun angezeigt. Braun sitzt Kretschmann gegenüber und moderiert die Sprechstunde.

Insgesamt 138 Fragen werden am Ende des Abends eingegangen und 24 davon beantwortet sein. Interessieren sich die Bürger, die ihre Fragen online stellen, denn für andere Themen als die Bürger, die zu offenen Dialogrunden kommen? „Nein“, sagt Kretschmann später im Gespräch mit unserer Zeitung, „die Fragen unterscheiden sich überhaupt nicht.“ Das Online-Format sei aber unpersönlicher, da bekomme er die Emotionen der Menschen nicht so mit. Dafür hat die Sprechstunde im Netz auch einen Vorteil: Bürger müssen sich kurz fassen, maximal 1000 Zeichen lang dürfen die Fragen sein, wenn sie in einer Maske auf der Webseite des Staatsministeriums gestellt werden. Das sei positiv, findet Kretschmann, so gebe es „keine Co-Referate wie ab und zu bei offenen Bürgerdialogen“.

Wohnraum ist für Kretschmann „wichtigste soziale Frage“

Die erste Frage des Abends stammt aus Karlsruhe. Vize-Regierungssprecher Braun liest sie vor. Das Wohnen werde immer teurer, was unternehme die Landesregierung dagegen? Dass Bau- und Mietpreise, gerade in Städten, geradezu explodiert seien, erfülle ihn mit Sorge, antwortet Kretschmann. Er schildert die Bemühungen der Landesregierung mit der Wohnraumallianz, die alle für den Wohnungsbau relevanten Akteure an einen Tisch bringe. Er unterstreicht auch, dass das Land die Fördermittel erhöht habe. Bis gebaut sei, dauere es allerdings, weil man nicht genügend Handwerker finde. Man werde aber alles daran setzen, „diese wichtigste soziale Frage, die wir zurzeit haben“, ernsthaft anzugehen, verspricht der Ministerpräsident. Denn eines ist für ihn klar: „Auch normalverdienende Menschen müssen in unseren Großstädten noch wohnen können.“

Ansonsten geht es an diesem Abend um Populismus, um die Jamaika-Sondierungen, um E-Mobilität und den Wandel der Automobilindustrie in Baden-Württemberg, um das Insektensterben, um die Aufhebung des Alkoholverkaufsverbot, um den Schuldenabbau des Landes, um Bildungsthemen, um Windkraftausbau, um die Beamtenversorgung sowie um eine Neubewertung der Sicherheitslage in Afghanistan und Abschiebungen dorthin. Kretschmann antwortet bestimmt, oft ausführlich. Manchmal hakt Braun, ein gelernter Journalist, im Sinne der Bürger nach, um eine tiefergehende Antwort zu erhalten.

Kretschmann: Bier als Kulturgut pflegen

Zum Thema Stuttgart 21 fragt eine Bürgerin aus Bad Cannstatt, warum Kretschmann nach den prognostizierten neuerlichen Kostensteigerungen nicht endlich die Notbremse ziehe. „Weil es die Notbremse nicht gibt. Wir sitzen ja nicht in einem Zug“, entgegnet Kretschmann. Er betont aber, dass das Land beschlossen habe, nicht mehr zu bezahlen als vertraglich geregelt sei. Es sei ein Projekt der Bahn und des Bundes. Die müssten deshalb die Mehrkosten tragen. Der Finanzierungsvertrag beinhalte zwar eine Sprech-, aber keine Zahlklausel. Man werde nur mehr berappen als die vorgesehenen 930 Millionen Euro, wenn Gerichte das Land dazu zwingen. Er erinnert auch daran, dass er ein Gegner des Projekts gewesen sei, das Volk aber entscheiden habe, dass der neue Bahnhof in dieser Form gebaut werden solle.

Nicht alle Anliegen der Bürger sind bierernst. Ulrike aus Stuttgart will wissen, welches Bier Kretschmann am liebsten trinkt. Kretschmann outet sich als Pilstrinker – und sinniert über die vielfältigen Biere, die man durch all die kleinen und mittleren Brauereien in Baden-Württemberg habe. Es gebe weit mehr als Export, Pils und Weizenbier im Sommer. Deshalb werde er demnächst „den Gastwirten mal den Vorschlag machen, dass wir nicht nur Weinkarten brauchen, sondern auch Bierkarten“, sagt er sichtlich erheitert. Die Zeiten, in denen man gesagt habe, man wolle entweder einen Rot- oder einen Weißwein seien ja auch vorbei.

Auch tagesaktuelle Themen wie die Ernennung des Orgelbaus und der Orgelmusik zum immateriellen Kulturerbe werden aufgegriffen. Wann und wo der Landesvater das nächste Orgelkonzert besuche, lässt Karl-Josef Jochim den Moderator fragen. Er sei ein großer Liebhaber von Orgelkonzerten, habe derzeit aber keinen Konzertbesuch geplant, sagt der Regierungschef. Die Frage sei aber „ein guter Hinweis, es bald zu tun“.

Weihnachten mit der Familie

Auch die letzte Frage des Abends ist eine private: Wie und mit wem verbringt der Ministerpräsident die Weihnachtstage? Das sei noch nicht ganz klar, sagt Kretschmann mit Blick darauf, dass er in diesen Tagen möglicherweise zum zweiten Mal Opa wird. Normalerweise feiere er Weihnachten klassisch mit der ganzen Familie: Man esse gemeinsam, singe Weihnachtslieder, er lese das Weihnachtsevangelium vor. Und danach gebe es Bescherung und man gehe in die Christmette. Die Weihnachtsgans gebe es indes erst am ersten Weihnachtsfeiertag – „da aber obligatorisch“.

Dann ist Schluss. Braun und Kretschmann verabschieden und bedanken sich für die Fragen und die Aufmerksamkeit der Bürger. Rund 2000 Zugriffe hat es in der vergangenen Stunde gegeben. Als die Übertragung zu Ende ist, klatschen die Mitarbeiter. Alles ist gut gegangen.