Wilhelm Brasse porträtierte für die Lagerkartei von Auschwitz Tausende Todgeweihte.
Oswiecim - Prima - dieses Wort passt nicht nach Auschwitz. Und trotzdem sitzt Wilhelm Brasse im Begegnungszentrum, wenige Kilometer vom ehemaligen Konzentrationslager entfernt, und sagt dieses harmlose Wörtchen immer wieder - ganz ohne Zynismus: "Prima Lebenszustände" hätten während seiner Zeit im Küchenkommando des Lagers geherrscht, was vor allem an der "prima Suppe" lag. Und als er dann zum Fotograf des Lagers wurde, das sei überhaupt eine "prima Arbeit" gewesen. Vielleicht ist das Wort dem etwas altmodischen Deutsch Wilhelm Brasses geschuldet, vielleicht der Aufregung, die ihn drei Stunden lang wie getrieben und fast ohne gedankliche Rast erzählen lässt. Vielleicht ist die Formulierung ein Schutz für ihn und das Gegenüber. Vielleicht gibt es für das, was der heute 93-Jährige in Auschwitz erlebt hat, ganz einfach nicht die passenden Worte. Denn die Alternative zu prima war in Auschwitz der Tod.
Eigentlich sprechen seine Bilder für sich. Wilhelm Brasse bringt sie in einem braunen DIN-A4-Umschlag mit, aus dem er sie nach und nach herauszieht. Wie Stücke eines sichernden Seils, an dem er sich entlanghangeln kann. 1941 wird der gelernte Fotograf dem Erkennungsdienst in Block 26 des Lagers zugeteilt. Hier arbeitet er mit etwa zehn weiteren Häftlingen: Fotografen, Laboranten, Grafikern, Schreibern. Im Akkord macht Brasse Fotos von jenen, die neu ankommen, die oft halbtot aus den Viehwaggons fallen. Durch seinen Sucher sieht er ehemalige jüdische Nachbarn, junge Frauen, die er in einem früheren Leben umworben hätte, schwächliche Kinder und gebrochene Alte. Vor allem aber die Angst.
Brasse holt das Bild der 14-jährigen Czeslawa Kwoka aus seinem Umschlag. Ein Streifen mit drei Aufnahmen. Sie zeigen das verstörte Mädchen in Häftlingskleidung und kurz geschoren: im Profil, frontal und mit Mütze nach rechts blickend. Darunter stehen die Eckdaten ihres letzten Weges: "In Auschwitz seit 13. Dezember 1942, gestorben 12. März 1943". Rund 50.000 solcher Fotos macht Brasse nach eigener Schätzung. Sie werden an eine Lagerkartei geheftet. Darauf: Nummer und Name, Geburtstag und -ort. "Fotografiert habe ich mit einer großformatigen Holzkamera. Das Objektiv war ein sehr scharf zeichnendes von Zeiss Ikon", erinnert sich Brasse. Etwa drei Minuten Zeit bleiben ihm pro Häftling. Er, der schon seit 1940 im Lager ist, weiß, dass die meisten nur wenige Wochen überleben werden. Er gibt manchmal Brot. Hat er ihnen gesagt, was sie erwartet? "Nein, aber sie haben auch nie gefragt."
"Ich war nur noch eine Nummer"
Es ist eine solche Schicksalsfrage, die Brasse, Sohn einer Polin und eines Österreichers, nach Auschwitz bringt. Katholisch getauft, wächst er in Zywiec auf, das damals noch Saybusch heißt und zur österreichischen Provinz Galizien gehört. Als die Nationalsozialisten im September 1939 seine Heimat überfallen, ist er 21. Ein Foto zeigt, wer er damals war: ein gepflegter junger Mann mit Mantel, Hut und offenem, freundlichem Blick, der sich entscheiden muss: Will er Deutscher sein oder Pole? "Ich habe damals als Pole optiert, ich war Pole", sagt Brasse. Noch einmal stellen ihm die Nazis diese Frage, als sie den Fliehenden an der Grenze zu Ungarn aufgreifen. Er könnte der Wehrmacht beitreten. Aber Brasse entscheidet sich ein zweites Mal für sein Polnischsein und landet als Nummer 3444 im Lager - nur 50 Kilometer von seinem Heimatdorf entfernt. "Ab diesem Tag bin ich gar kein Brasse mehr, nur noch eine Nummer."
"Der Porträtfotograf" heißt ein Dokumentarfilm über Brasse aus dem Jahr 2005, und er erzählt auch von der Pervertierung seines Berufes und vom perfiden Spiel um Leben und Sterben, das die Nazis trieben. Rund 1,1 Millionen Menschen werden im Stammlager Auschwitz und in Auschwitz-Birkenau ermordet. Die Nummer Brasse überlebt, auch, weil sie anderen ein Gesicht gibt. Der Porträtfotograf wird mit jedem Schuss zum Chronisten eines Massenmords, ist heute einer der letzten Zeitzeugen.
Eines seiner Bilder ist zu einem Symbol für das Lager geworden. Brasse hat es mitgebracht, aber es hängt auch in Lebensgröße im Block 6 der heutigen Gedenkstätte Auschwitz. Vier Mädchen sind darauf zu sehen, Teenager. Nackt, mager und mit fast kahlem Kopf stehen sie in einer Reihe. "Sie schämten sich sehr und hatten schreckliche Angst. Es war für uns alle sehr peinlich", erinnert sich Brasse. Josef Mengele hatte die vier Jüdinnen zu ihm geschickt. Der KZ-Arzt lässt Brasse ab 1943 regelmäßig seine menschlichen Versuchskaninchen ablichten: Erst nur Gruppen junger Frauen, dann Zwillings- und Drillingspaare, Kleinwüchsige, Krebskranke, Entstellte mit zerfressenen Kiefern. Im Frauenblock 10 muss Brasse medizinische Experimente festhalten. "Ich war auch bei einer Sterilisation dabei. Gleich nach der Operation musste ich die Gebärmutter fotografieren..."
Fotografieren konnte er nie mehr wieder
Nicht retuschieren kann Brasse die Erlebnisse und Bilder, die sich in sein Gehirn zeichnen. Darüber, wie er seine Arbeit aushielt, kann er nicht viel sagen, nur das: "Ich habe versucht, nicht so viel darüber nachzudenken." Am Ende ist sein Geist hellwach: Im Januar 1945, kurz bevor sowjetische Truppen das Lager befreien, ordnet Hauptscharführer Walter an, alle Negative und Abzüge zu verbrennen. Doch nachdem der SS-Mann den Raum verlassen hat, holt Brasse die Zeugnisse aus dem Feuer und schließt sie in einen Schrank. "Ich habe irgendwie gespürt, dass sie für die Zukunft wichtig sind", sagt Brasse. Die Sowjets finden unter anderem knapp 39.000 erkennungsdienstliche Fotos.
Der Überlebende erlebt die Befreiung von Auschwitz am 27. Januar 1945 nicht. Er wird vorher deportiert. Zu Fuß und auf offenen Kohlewaggons gelangt er über das KZ Mauthausen ins Nebenlager Melk, wo ihn erst im Mai die Amerikaner befreien. Da ist er schon fast zu einem seiner Porträtierten geworden: halbtot, 42 Kilo leicht. Er schafft es ins Leben zurück, aber nicht unter die Fotografen: "Ich habe es versucht, aber immer tauchten im Sucher die nackten jüdischen Mädchen auf."
Das letzte Foto, das er aus dem Umschlag zieht, ist ein Foto von ihm und seiner Frau Stanislawa, die er kurz nach seiner Befreiung kennenlernt. Mit ihr baut er eine kleine Fabrik für Wurstwaren auf, sie wohnen wieder in seinem Heimatdorf, nur 50 Kilometer von Oswiecim, wie Auschwitz auf Polnisch heißt, entfernt. In 63 Ehejahren sprechen Wilhelm und Stanislawa Brasse kein einziges Mal über das Erlebte. Erst als sie stirbt, beginnt er, Besuchergruppen der Gedenkstätte zu erzählen, was er gesehen hat. Und was er selbst nicht auszudrücken vermag, das sagen seine Bilder, die dicht an dicht, zu Hunderten in den Gängen des ehemaligen Stammlagers Auschwitz hängen.