Der Ort ist aufgrund seiner Kessellage bei Starkregenereignissen stärker gefährdet als andere. Bei plötzlichem Hochwasser zählt für Einsatzkräfte jede Minute - der Schwarzwaldort Lenzkirch testet deshalb ein neues Frühwarnsystem. Foto: Philipp von Ditfurth/dpa

Bei plötzlichem Hochwasser zählt für Einsatzkräfte jede Minute - der Schwarzwaldort Lenzkirch testet deshalb ein neues Frühwarnsystem. Alarmiert war man hier schon vor der Ahrweiler-Katastrophe.

Lenzkirch - Tannen umsäumen das Tal, Titisee und Schluchsee sind nah, zwei Flüsschen durchziehen den Ort. Am Kurhaus treffen der Urseebach und die Haslach zusammen. Lenzkirch im Hochschwarzwald liegt idyllisch. Doch wenn es richtig regnet, ist es mit der Idylle vorbei. Dann können die Flüsse mächtig anschwellen. Um dafür gewappnet zu sein, vertraut der Ort auf das Frühwarnsystem eines Schweizer Unternehmens. Es kombiniert aktuelle Wetter- und Pegeldaten mit einer Bodenfeuchteüberwachung.

Die Flutkatastrophe im Ahrtal vor einem Jahr hat den Ernst der Lage für den 5000-Einwohner-Ort im Hochschwarzwald noch mal verdeutlicht. "Wir sind auch in einer Kessellage", sagt Thomas Raufer, der Feuerwehrkommandant von Lenzkirch. "Das ist unser Problem. Regnet es stark, sammelt sich das ganze Wasser im Tal." Und das in so kurzer Zeit, dass Einsatzkräften wenig Vorlaufzeit bleibt. Doch im Ernstfall zählt jede Minute, um Menschen und Häuser zu schützen.

Haslach kann zu reißendem Strom werden

Was eine Sturzflut nach extremem Starkregen anrichten kann, hat sich am 14. und 15. Juli vor einem Jahr im Ahrtal gezeigt: 134 Menschen starben, mehr als 750 wurden verletzt. Tausende Häuser wurden beschädigt oder zerstört, ebenso Straßen, Brücken und Schienen.

So schlimm hat es Lenzkirch bislang nicht getroffen. Aber dass die Haslach innerhalb kürzester Zeit zum reißenden Strom werden und großen Schaden anrichten kann, haben die Einwohner im Februar 2018 nach einem Unwetter bei gleichzeitiger Schneeschmelze erlebt. "Da hatten wir landunter", erinnert sich Raufer. Um eine größere Überflutung durch Treibgut zu verhindern, wurde eine Brücke abgerissen. Die 120 Feuerwehrmänner im Ort und auswärtige Helfer mussten innerhalb von 35 Stunden über 100 mal ausrücken. Es entstanden Schäden in sechsstelliger Höhe. "Es wäre geschickt gewesen, wenn wir ein Frühwarnsystem gehabt hätten", meint Raufer rückblickend.

Für das nächste Hochwasser sieht sich Lenzkirch besser gerüstet: Seit 2020 hat die Schweizer Firma Endress+Hauser entlang von Haslach und Urseebach etwa zwei Dutzend Sensoren für Starkregen und Bodenfeuchte, Pegelmessgeräte und Regenmengenmesser installiert. Das Besondere des Systems ist, dass eine künstliche Intelligenz auf Basis der Messwerte und der Wetterprognose täglich mehr über das Gebiet hinzulernt. Das soll eine frühzeitige Gefahreneinschätzung ermöglichen, erläutert Clemens Haberstroh, der Leiter des Lenzkirch-Projekts von Endress+Hauser.

System hat Bewährungsprobe schon überstanden

Sobald kritische Werte erreicht werden, informiert das System automatisch über Smartphone, SMS oder Anruf. "Das System kann ein Hochwasser natürlich nicht vermeiden", sagt Haberstroh. "Es geht darum, die Vorlaufzeit zu erhöhen." Im Ernstfall soll die Feuerwehr schnell entscheiden können, wohin sie zuerst ausrückt, wo Sandsäcke deponiert, Häuser evakuiert und Pumpen hingeschafft werden müssen. "Wenn die Feuerwehr in einer Chaosphase 30-40 Anrufe auf einmal bekommt, weiß sie nun, wohin sie als erstes muss."

Nach Angaben von Feuerwehrkommandant Raufer hat das System schon seine Bewährungsprobe bestanden: Im Frühjahr vergangenen Jahres schlug es Alarm. "Wir haben Gebäude vorsorglich abgeschottet, es ist nichts passiert", freut sich Raufer. Der Vorteil des Systems aus seiner Sicht: Statt Prognosen, die sich auf Vergangenes stützen, habe man Daten, die den Ist-Zustand widerspiegeln. Beim letzten starken Regen Ende Juni konnte er sich so schnell entspannen: Die in die Leitzentrale übermittelten Daten zeigten, dass der Boden noch genug Wasser aufnehmen konnte und der Abfluss der Flüsse funktionierte.

Kleinere Flüsse und Bäche bleiben oft außen vor

Die Schweizer Firma hat das Frühwarnsystem mit einem Start-up entwickelt, das Wurzeln an der Ruhr-Universität Bochum hat. Die Entwickler und Hydrologen wollen mit dem selbstständig lernenden System bundesweit Rathauschefs, Feuerwehrleuten, Rettungskräften und Ingenieurbüros Entscheidungshilfen geben. Lenzkirch ist ihr Modellprojekt. Ab August soll das System ganz einsatzbereit sein.

Das Interesse von Kommunen und Verbänden sei groß, vor allem nach der Ahrtal-Katastrophe, berichtet Haberstroh. Und er sieht Bedarf: Im Gegensatz zu großen Flüssen würden kleinere Flüsse und Bäche von bestehenden Systemen in Deutschland nicht gut überwacht.

Bei der Landesanstalt für Umwelt Baden-Württemberg (LUBW) begrüßt man prinzipiell alle Anstrengungen der Kommunen, selbst beim Hochwasserschutz vorzusorgen. "Letztlich ziehen alle an einem Strang", sagt Ute Badde, Expertin der Hochwasservorhersagezentrale (HVZ) in Karlsruhe. "Es geht darum, dass niemand untergeht." Die leitende Wasserbauingenieurin verweist aber auf bestehende Hochwasser- oder Starkregenwarnsysteme des Landes unter LUBW-Regie.

So ist die "Meine Pegel App" für das Smartphone inzwischen mit einer regionalen Hochwasserwarnkarte ergänzt worden. Auch könnten Kommunen die Pegel kleiner Flüsse in das landeseigene Flutinformations- und Warnsystem FLIWAS einpflegen lassen. Droht wegen Starkregen Gefahr, würden sie dann gewarnt. Extreme lokale Hochwasserereignisse - Schlagzeilen machten etwa Braunsbach (Kreis Schwäbisch Hall) im Mai 2016 oder Baden-Baden im Oktober 1998 - könnten zwar dadurch nicht verhindert werden. "Aber Schäden könnten durch frühere Vorwarnzeit deutlich reduziert werden", betont die Hochwasserexpertin.