Heimatgeschichte: Leser erinnern sich an 1945 / Josef Rebhan öffnet ein kleines Zeitfenster / Verbrannte Haare

Wellendingen. Leser erinnern sich an das Kriegsende 1945 und die Nachkriegszeit. Josef Rebhan hat diese Zeit in Wellendingen erlebt:

"Mit jedem Menschen stirbt auch eine Bibliothek. Diese kluge Feststellung kam mir wieder in den Sinn beim Niederschreiben dieser Zeilen. Als Achtjähriger habe ich noch Erinnerungen an den Krieg, mehr noch an die aufregende Zeit unmittelbar danach.

So erfuhr ich die Bombardierung des Rottweiler Bahnhofs deshalb sehr bildhaft, weil mein Vater als Rottenmeister dort die Gleise wieder befahrbar machen musste. Dafür hatte er eine Truppe (Rotte) nur aus polnischen und russischen Gefangenen.

Kein Unterricht ab Ende 44

Wir Schüler erhielten ab Ende 1944 überhaupt keinen Unterricht mehr. Ab Ende 1944, weil unsere Schule mit gefangenen Franzosen belegt war. Zu Ende des Krieges sah ich, wie Fallschirmspringer aus einem abgeschossenen englischen Flugzeug außerhalb vom Dorf am ›Katzensteig‹ niederschwebten und ein Besatzungsmitglied gefangen in die Rathaus-Arrestzelle gebracht wurde.

An einem Abend, vielleicht ein oder zwei Tage vor dem Einmarsch der Franzosen, sah man einen Tiefflieger von Süden nach Norden den Ort kundschaften. Vor dem Einmarsch der Franzosen lief ein Einwohner durch die Straßen und Gassen des Ortes mit der beschwörenden Mahnung: ›Ruhig verhalten, nicht schießen, in den Häusern bleiben!‹

Schmunzelnd wurde das von den Leuten später immer wieder deshalb erzählt, weil dieser Mann fest daran glaubte, Bürgermeister zu werden. Seine Erwartung ging jedoch nicht in Erfüllung.

Einmarsch der Franzosen

Ohne Zwischenfälle ging der Einmarsch der Franzosen nach meiner Recherche vonstatten. Auch zwei errichtete Panzersperren waren dabei kein Hindernis. Ein gefangener Franzose, der bei einem örtlichen Bauer beschäftigt war, fuhr mit einem Onkel von mir in Richtung Schömberg dem Tross der französischen Soldaten entgegen.

Dieser gefangene Franzose, Robert, war ortskundig, weil er landwirtschaftlich beschäftigt war und den Bewohnern Schweine schlachtete. Seine Schilderungen über Ort, Leute und örtlich gefangen gehaltenen Franzosen gab den Soldaten die Erwartung, ohne einen Schuss das Dorf einnehmen zu können. Aus dem Gefangenen Robert wurde sodann der ›Französische Ortskommandant‹.

In dieser Eigenschaft ermahnte er einmal meine Mutter wegen der Übertretung des abendlichen Ausgehverbots. Sie holte in Eimern noch Wasser für das Vieh am nahen Dorfbrunnen. Meine Mutter konterte ihm: ›Robert, wenn Du Durst hast, trinkst du doch auch. Aber mit Wasser bist Du gar nicht zufrieden.‹

Projekt von Schülern

Erwähnenswert ist auch das einige Jahre zurückliegende Projekt einer Schülergruppe der Hauptschule Wellendingen unter anderem über das Schicksal einer polnischen Zwangsarbeiterin am Ort, die mehr als 20 Jahre später durch Heirat noch Wellendinger Bürgerin wurde.

Zeitlich zuvor hatte der Verfasser dieser Zeilen sein ›polnisches Kindermädchen‹ in Polen besucht. Auf Einladung seiner Familie besuchte danach diese Polin noch zweimal ›ihre‹ Wellendinger Familie.

Spannend für uns Buben war die Feldküche in der Scheune eines Bauernhauses. Wir mussten die abgelieferten Hühner rupfen und bekamen dafür Kekse und andere kleine Essbarkeiten aus der Feldküche.

Beim Grillen durften wir gelegentlich das Feuer bedienen. Dabei begoss einmal ein Bub das Grillfeuer mit zu viel Benzin – reihum hatten wir verbrannte Augenbrauen und Haare. Da viel, zumal von den marokkanischen Soldaten, Wein getrunken wurde, waren unsere Besuche nicht ganz ohne Risiko.

Munition "organisiert"

Gefährlich war auch unser eigenes Verhalten, weil wir bei ihnen ganze Gurte von Munition geklaut haben. Andernorts öffneten wir die Patronen und machten mit dem Pulver Feuerchen.

Nicht minder abenteuerlich waren unsere Raubzüge zu den am örtlichen Bahnhof abgestellten Güterwagen. Wir hatten es auf Fliegeruhren (Borduhren) abgesehen. Wir statteten uns mehrfach reichlich damit aus. Für den Tauschhandel mit anderen Jungen waren diese bestens geeignet.

Mein Bruder und ich hatten in der besten Absicht einmal Garn nach Hause gebracht. Erbost über diesen Diebstahl, von den Uhren hatte er keine Ahnung, ordnete der Vater die alsbaldige Rückgabe der Beute an. Schließlich war der so penible Vater ja Bahnbeamter.

Doch mit gespieltem ›Unwissen‹ der Mutter versteckten wir die Beute eine Zeitlang. In Ermangelung echter Wolle strickte die Ahne später damit Sockenanfänge (Fußteile) und war über unseren Diebstahl froh.

Bevor wir Kinder Kunde von diesen begehrten Waren erlangten, hatten Erwachsene schon vieles, unter anderem verschiedenartige technische Produkte wie Messuhren und Drehbankspitzen aus den Waggons weggeschafft. Moralisch hatten alle Diebe keine ›Gewissensbisse‹, denn den Besatzern gehörten die Waren ja nicht.

Gelungene Integration

Viele wahre Begebenheiten wären noch des Schreibens und Lesens wert. Kriegsteilnehmer als Zeitzeugen blieben zum Teil stumm, andere, die sich gegenüber dem Verfasser aussprachen, wollten ihre persönliche Biografie nicht öffentlich machen.

Auch wurde versäumt, die örtliche Eingliederungsbereitschaft und die Bereicherung unseres Gemeindelebens durch die Heimatvertriebenen und Flüchtlinge festzuhalten. Diese wurden sehr schnell als ›schwäbische Häuslebauer‹ integriert.

Konkrete Heimatgeschichte ist für die Nachkommenschaft mindestens genau so wertvoll wie überörtliche Beschreibungen, die auf jeden Ort unserer Raumschaft zutreffen. Die Ortsbibliothek hat noch leere Seiten. Manche werden schon jetzt nicht mehr geschrieben werden können."