Die wahren Verlierer der Corona-Krise sind in den Statistiken der Arbeitsagentur oft unsichtbar. (Symbolfoto) Foto: © Samuel – stock.adobe.com

Die Corona-Krise, die seit einem Jahr große Teile der Wirtschaft auch im Kreis Freudenstadt lähmt, hat ein nie gekanntes Ausmaß an Kurzarbeit produziert. Die wahren Verlierer sind aber andere – und in der Arbeitslosenstatistik tauchen sie erst gar nicht auf.

Kreis Freudenstadt - "Stabil, aber ernst" – so beschreibt Martina Lehmann die Lage in der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt. Die Leiterin der Agentur für Arbeit Nagold-Pforzheim war am Montag zur Sitzung des Verwaltungs- und Sozialausschusses ins Landratsamt gekommen, um einen Lagebericht für den Landkreis abzugeben. Mit dabei war Peter Schuster, Leiter des Jobcenters Landkreis Freudenstadt. Lehmann sagte, in dreieinhalb Jahrzehnten bei der Arbeitsagentur habe sie nie zuvor eine Krise erlebt, die vom Ausmaß her auch nur "annähernd vergleichbar" gewesen sei. Selbst der Höhepunkt der Finanz- und Wirtschaftskrise im Jahr 2009 sei vergleichsweise einfach zu händeln gewesen.

 

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Nie gekanntes Ausmaß

Positiv: Die "Brücke Kurzarbeit" trage und halte. Die Unternehmen im Kreis zeigten "Verantwortungsbewusstsein" und "kluges Unternehmertum". Sie hätten es weitestgehend vermieden, Mitarbeiter zu entlassen. "Das Problem des Fachkräftemangels wird auch spätestens dann wieder aufkommen, wenn die Krise vorbei ist", sagte Lehmann voraus.

Die Ausmaße der Kurzarbeit seien dennoch "erschreckend" und fünf Mal größer als 2009. Alleine im Kreis Freudenstadt hätten mehr als 1800 Unternehmen Kurzarbeit für etwa 30.700 Beschäftigte beantragt. Das seien fast 60 Prozent aller Betriebe. 80 Prozent davon seien kleine Firmen mit weniger als 20 Mitarbeitern, die zuvor nie etwas mit Kurzarbeit am Hut gehabt hätten.

Zwar habe die Agentur ihr Beraterpersonal in diesem Bereich aufgestockt, auch dank personeller Hilfe des Landratsamts. Dennoch arbeite sie "bis heute im Ausnahmemodus", um die Hilfen abzuwickeln. Hätte die Agentur nicht bereits vor Corona auf die elektronische Akte umgestellt, wäre sie mit der Lage hoffnungslos überfordert gewesen. Mit einer Arbeitslosenquote von 3,8 stehe der Landkreis zwar immer noch besser da als der Landesdurchschnitt. Dennoch betrage das Plus im Vergleich zum Vorjahr 40 Prozent. 2900 Frauen und Männer im Kreis seien im Februar arbeitslos gemeldet gewesen. Gleichzeitig habe es etwa 1200 offene Stellen gegeben.

Die wahren Verlierer

Die wahren Verlierer der Krise seien in den Statistiken der Arbeitsagentur unsichtbar: Einzelhandel, Gastronomie und Hotellerie treffe es besonders hart, und dort die Zuarbeiter und Hilfskräfte in geringfügiger Beschäftigung. Es gebe viele 450-Euro-Jobber, vor allem Frauen, die von solchen Einkommen leben müssten. Sie bekämen kein Kurzarbeitergeld. Ihnen bleibe nur der Weg zum Sozialamt. Dasselbe gelte für viele Soloselbstständige und Kleinunternehmer ohne soziale Absicherung. Auch Hotel-Dienstleister, die keiner auf der Rechnung habe, seien hart getroffen. "Von Wäschereien und Reinigungskräften beispielsweise spricht praktisch keiner", so Martina Lehmann. "Wahnsinn" sei auch, was die Branchen Messebau und Kulturschaffende aushalten müssten.

Lehmann sagte, sie sei fest davon überzeugt, dass viele Teile der Wirtschaft "schnell wieder auf die Beine kommen", wenn die Krise hoffentlich bald überwunden sei. "Ich glaube, viele Hotels und Gaststätten beispielsweise werden im Sommer wieder gute Geschäfte machen." Sorge mache sie sich um andere: ältere Beschäftigte über 50, die ihren Job verloren hätten, vor allem dann, wenn sie ungelernt und gesundheitlich nicht mehr voll belastbar seien. Ihre Chancen stünden schlecht, zeitnah wieder Arbeit zu finden. "Die Langzeitarbeitslosigkeit steigt bei uns mit hoher Geschwindigkeit", so Lehmann.

Lernen Gebot der Stunde

Erschwerend hinzu komme der Strukturwandel, etwa durch die Digitalisierung der Geschäftswelt oder in der Automobilindustrie. Hier seien der Enzkreis und der Kreis Freudenstadt durch ihre hohe Dichte an Industrie besonders stark in der Region betroffen. Deshalb reiche es nicht aus, "nur auf die Entwicklung zu schauen". Das Gebot der Stunde laute: "Lernen und Fortbildung." Die Agentur habe in diesem Bereich ihr Personal aufgestockt. Jedem, der "weiterbildungswillig und -fähig" sei, solle bei Interesse ein Angebot unterbreitet werden.

Den Unternehmen selbst sei kein Vorwurf zu machen, sie hätten es in der Vergangenheit versäumt, ihre Mitarbeiter fortzubilden. "Weiterbildung, das sagt sich so leicht", so Lehmann, "aber das ist unter Vollauslastung wie vor Corona zeitlich schwierig. Außerdem wissen viele Unternehmen auch noch nicht, wohin die Reise für sie gehen wird."

Selbstständige in Hartz IV

Die Notfälle in der Corona-Krise zeigen sich vor allem in den Zahlen des Jobcenters. Aufgrund der Krise hat der Bund den Zugang zur sozialen Sicherung erleichtert, so dessen Leiter Schuster. Ersparnisse müssen für sechs Monate nicht angetastet werden, das Antragsverfahren ohne Vermögensprüfung sei vereinfacht, die Bewilligung erfolge rasch. Übrigens: "verwertbares erhebliches Vermögen", das zuerst aufgelöst werden muss, liegt erst jenseits der Grenze von 60.000 Euro vor. Dazu kommen jeweils 30.000 Euro für jedes weitere Haushaltsmitglied.

990 Erstanträge auf Existenzsicherung seien voriges Jahr im Jobcenter eingegangen, an dem der Landkreis beteiligt ist. Dies seien 50 Prozent mehr als 2019. 70 Selbstständige bezögen derzeit Arbeitslosengeld II, landläufig Hartz IV genannt. Die meisten davon seien in Gastronomie, Kultur, Messebau und Einzelhandel tätig.