Mitten in der dritten Welle: Die Bundesregierung ruft die Bürger zu größter Disziplin auf. Gesundheitsminister Jens Spahn sagt, das Land befinde sich im letzten Teil des Pandemie-Marathons. Dies sei jedoch auch der schwerste Teil. Foto: dpa/Paul Zinken

Regierung und Behörden zeichnen ein ausgesprochen düsteres Bild der Pandemielage im Land. Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl fordert derweil einen „kurzen allumfassenden Lockdown“ – und zwar sofort.

Berlin/Stuttgart - Wenige Tage nach der Rücknahme der sogenannten Osterruhestellen Bundesregierung und Behörden die Bevölkerung darauf ein, dass das Infektionsgeschehen in Deutschland vollends außer Kontrolle geraten könnte. Der Chef des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, sagte am Freitag, dass bis zu 100 000 Neuinfektionen am Tag denkbar seien. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) rief die Länder dazu auf, die vereinbarte Notbremse bei einer hohen Zahl von Corona-Neuinfektionen auch tatsächlich zu ziehen. Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) macht sich für einen „kurzen, allumfassenden Lockdown“ stark. Ein Überblick.

Wie schätzt das Robert-Koch-Institut die Lage ein?

RKI-Präsident Wieler zeichnete bei einem gemeinsamen Auftritt mit dem Gesundheitsminister in Berlin ein ausgesprochen düsteres Bild der Lage. Es gebe deutliche Signale, dass die gerade begonnene dritte Coronawelle „noch schlimmer werden kann als die beiden ersten Wellen“. Die dritte Welle sei nicht mehr zu verhindern. Wieler befürchtet eine Überlastung des Gesundheitswesens und den Tod zahlreicher Menschen. „Wenn wir nicht sofort massiv gegensteuern, werden die Folgen gravierend sein.“ Der RKI-Chef hält eine Vervielfachung der Fallzahlen für möglich. „Klar, das können dann auch 100 000 pro Tag werden.“ Das wären etwa fünfmal so viele wie zuletzt. Am Freitag hatte das Robert-Koch-Institut rund 21 600 Neuinfektionen gemeldet.

Werden die Coronamaßnahmen jetzt auf breiter Front verschärft?

Darauf gibt es noch keine Hinweise. Allerdings geraten die Regierungen in Bund und Ländern immer stärker unter Druck, entschiedener gegen die Pandemie vorzugehen. Der baden-württembergische Innenminister Strobl, der auch CDU-Vizechef ist, sagte unserer Redaktion: „Die Lage ist sehr ernst. Wir bräuchten in Wahrheit jetzt sofort einen kurzen allumfassenden Lockdown, um die rasante Ausbreitung der Mutante B 117 zu stoppen.“ Physisch anwesend in ihren Betrieben wären in dieser Zeit nur Angestellte, die zwingend dort sein müssten oder kritische Infrastrukturen betreuten. Für Schüler stünden ohnehin die Osterferien an. Strobl ergänzte, er selbst habe das im vergangenen Herbst bereits einmal mit Wissenschaftlern für den November vorgeschlagen. „Damals wurde es nicht gemacht, weil es politisch keine Mehrheiten gab. Wir können diesen Fehler jetzt wiederholen: freilich dauert es dann halt länger und wird noch schlimmer.“ Die Idee einer Osterruhe sei grundsätzlich richtig. Die Bundeskanzlerin verdiene für ihren „mutigen Vorschlag“ in Wahrheit Unterstützung, sagte Strobl. Er ergänzte: „Leider war die Sache im Detail unzureichend und insgesamt schlecht vorbereitet. Und selber habe ich im Herbst gelernt: Ein zwar richtiger und konsequenter Vorschlag lässt sich halt nur umsetzen, wenn es auch entsprechende Mehrheiten und hinreichend Akzeptanz dafür gibt.“

Was machen Bund und Länder?

Gesundheitsminister Spahn appellierte am Freitag an die Länder, die vereinbarte Notbremse tatsächlich anzuwenden. Ein Beschluss von Anfang März sieht vor, dass die Länder bereits erfolgte Öffnungsschritte zurücknehmen sollen, wenn in Ländern oder einzelnen Regionen die sogenannte Sieben-Tage-Inzidenz an drei aufeinanderfolgenden Tagen über 100 liegt. Am Freitag lagen nur noch fünf Länder unter diesem Wert – und zwar Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, das Saarland und Schleswig-Holstein. Von den Ländern, die darüber liegen, sind längst nicht alle bereit, auch konsequent die Notbremse zu ziehen. Berlin und Nordrhein-Westfalen etwas scheren bereits mit Sonder-Regelungen aus. In Baden-Württemberg wird derzeit noch geklärt, welche Kontaktbeschränkungen dort über die Osterfeiertage gelten sollen. Bundesgesundheitsminister Spahn sagte, das Osterfest sei noch nicht wieder so zu gestalten wie gewohnt. „Wir befinden uns im letzten Teil des Pandemiemarathons“, hofft der CDU-Politiker. Dies sei jedoch auch der schwerste Teil. „Das Ziel ist abzusehen, aber es dauert noch, bis es erreicht sein wird.“ Derzeit könne die Impfkampagne noch nicht mit dem Pandemiegeschehen Schritt halten.

Bleibt es bei umfassenderen Öffnungen im Saarland nach Ostern?

Ja. Saarlands Ministerpräsident Tobias Hans (CDU) wies Kritik an dem Vorgehen seiner Landesregierung zurück. Die geplanten Lockerungen seien als Anreiz zu verstehen, sich auf Corona testen zu lassen – „nämlich vielleicht einmal ein Eis essen zu gehen auf einem Marktplatz oder Sport zu machen im Verein mit wenigen Personen“. Mit besonders vielen Tests sollten dann infizierte Menschen entdeckt, in Quarantäne gebracht und so neue Ansteckungen vermieden werden. Am Dienstag nach Ostern können im Saarland wieder Kinos, Fitnessstudios und die Außengastronomie öffnen. Zutritt soll aber nur bekommen, wer einen tagesaktuellen negativen Schnelltest vorlegen kann. Die Ärztegewerkschaft Marburger Bund kritisierte das Vorgehen: Modellversuche dieser Art könnten in der gegenwärtigen Situation keine Alternative zum Lockdown sein.

Würde die Bevölkerung eine Verschärfung der Corona-Einschränkungen mittragen?

Das ist nicht ganz klar. Das ZDF veröffentlichte am Freitag ein neues „Trendbarometer“ der Forschungsgruppe Wahlen. Demnach befürworteten 36 Prozent der Befragten – also etwas mehr als ein Drittel – rigidere Mittel im Kampf gegen Corona. 31 Prozent gaben an, die geltenden Regeln seien gerade richtig. 26 Prozent halten die geltenden Regeln bereits für übertrieben. Die inzwischen gekippte Osterruhe bezeichneten 54 Prozent als nicht richtig, 41 Prozent aber als richtig.