Zeitenwende in der Türkei: Seit 2016 gehen die Uhren am Bosporus anders. Die dauerhafte Sommerzeit sorgt für hellere Abende, aber auch für dunkle Morgenstunden. Istanbul und Ankara sind nun in einer Zeitzone mit Mekka und Moskau.
Wie in diesem Jahr die Ukraine traf die türkische Regierung 2016 eine bemerkenswerte Entscheidung: Die Abschaffung der Zeitumstellung. Seitdem gilt in der Türkei das ganze Jahr über die Sommerzeit. Was zunächst wie eine kleine Änderung erscheinen mag, hat weitreichende Konsequenzen für das tägliche Leben der Menschen und symbolisiert womöglich einen kulturellen Wandel.
Die Entscheidung wurde von der Regierung unter Präsident Recep Tayyip Erdogan getroffen. Offiziell begründet wurde der Schritt mit einer besseren Nutzung des Tageslichts und Energieeinsparungen. Energieminister Berat Albayrak, der Schwiegersohn des Präsidenten, verkündete, dass durch die Beibehaltung der Sommerzeit allein im ersten Jahr zwischen Oktober 2016 und März 2017 1,3 Milliarden Kilowattstunden weniger Strom verbraucht worden seien.
Diese Zahlen werden jedoch von Experten angezweifelt. Der Verband der Elektroingenieure (EMO) in der Türkei argumentiert, dass die permanente Sommerzeit den Stromverbrauch sogar erhöht habe.
Keine Zeitumstellung auf Winterzeit
Die Auswirkungen der Zeitumstellung sind besonders in den westlichen Landesteilen spürbar. In Istanbul geht die Sonne im Dezember erst gegen halb neun Uhr auf. Das führt dazu, dass viele Schulkinder morgens im Dunkeln zur Schule gehen müssen. Eltern hatten aus Sorge um die Sicherheit ihrer Kinder sogar vor Gericht gegen die Regelung geklagt. Im türkischen Teil Zyperns, der die Zeitumstellung zunächst mitgemacht hatte, kam es zu einem tragischen Unfall, bei dem zwei Kinder starben, als sich ein Schulbus im morgendlichen Dunkel überschlug.
Um diesen Problemen zu begegnen, haben die Provinzgouverneure die Unterrichtszeiten angepasst. In Istanbul soll es beispielsweise keinen Unterricht vor acht Uhr geben, in Ankara oder Denizli an der Mittelmeerküste nicht vor 8.30 Uhr.
Zeitumstellung auf Zone von Mekka
Die Entscheidung hat auch geopolitische und kulturelle Dimensionen. Mit der permanenten Sommerzeit rückt die Türkei zeitlich näher an den Nahen Osten heran. Istanbul tickt nun wie Mekka, was bei der konservativ-religiösen Basis der Regierungspartei AKP auf Zustimmung stößt.
Ewige Sommerzeit = Moskauer Zeit (UTC +3)
Gleichzeitig vergrößert sich der Zeitunterschied zu Europa. Im Sommer ist die Türkei weiterhin eine Stunde vor Mitteleuropa, im Winter wächst der Unterschied auf zwei Stunden an. Die „ewige Sommerzeit in der Türkei“ entspricht im Übrigen der „ewigen Winterzeit in Russland“, wo es seit 2010 ebenfalls keine Zeitumstellung mehr gibt. Die Zeitzone von Ankara und Istanbul hat nun Moskauer Zeit (UTC +3) – obwohl Istanbul etwa 900 Kilometer weiter westlich liegt als die russische Metropole.
„Untürkische Zeitumstellung“
Diese Abkopplung von der europäischen Zeit wird von manchen Kritikern als symbolischer Akt gesehen, der die zunehmende Distanzierung der Türkei von Europa widerspiegelt. Die AKP-Regierung sieht in der Zeitumstellung eine „Mode aus dem Westen“, etwas „Untürkisches“, das dem Land nicht angemessen sei.
Interessanterweise ist die Türkei mit dem Wunsch nach dem Ende der Zeitumstellung nicht allein. In Deutschland und anderen europäischen Ländern wird seit Jahren über die Abschaffung der Sommerzeit diskutiert. Viele Menschen klagen über gesundheitliche Beeinträchtigungen wie Schlafstörungen oder depressive Verstimmungen durch den halbjährlichen Wechsel. Laut einer Forsa-Umfrage hielten vor einigen Jahren drei von vier Bundesbürgern einen Wechsel von Sommer- auf Winterzeit nicht mehr für sinnvoll.
Pro und Contra Zeitumstellung
Die türkische Entscheidung könnte somit als Vorbild für andere Länder dienen, die über eine Abschaffung der Zeitumstellung nachdenken. Allerdings zeigen die Erfahrungen in der Türkei auch die Probleme, die eine solche Änderung mit sich bringt. Nordzypern hat jedenfalls wieder Abstand davon genommen.
Länder in der Nähe des Äquators kennen ohnehin keine Zeitumstellung, da dort die Sonne das ganze Jahr über immer annähernd um 6 Uhr aufgeht und um 18 Uhr untergeht.
Zeitumstellung abgeschafft (Länderauswahl)
- Ägypten
- Argentinien
- Belarus
- Brasilien
- China
- Indien
- Irak
- Iran (seit 2022)
- Island
- Japan
- Jemen
- Namibia
- Oman
- Russland
- Saudi-Arabien
- Südafrika
- Syrien
- Türkei
- Ukraine (ab 2025)
- Vereinigte Arabische Emirate
Nach einigen Jahren Erfahrung scheint die Türkei bei ihrer Entscheidung zu bleiben. Und als nächstes Land hat nun die Ukraine die Zeitumstellung abgeschafft. Dort werden letztmals am 27. Oktober 2024 die Uhren von Sommerzeit auf Winterzeit umgestellt. Sicher ist, dass die Diskussion um die optimale Zeiteinteilung weiterhin ein Thema bleiben wird - nicht nur in der Türkei, sondern weltweit. Auch die EU hatte es schon einmal auf der Agenda, bevor die Initiative von Jean-Claude Juncker wieder versandete.