David Holinstat ist im Rahmen des Projekts "Meet a Jew" zu Gast in Tumlingen.Foto: privat Foto: Schwarzwälder Bote

Interview: Der gebürtige Amerikaner und Jude ist am 22. September in der Schenke & mehr bei "Meet a Jew" zu Gast

Waldachtal-Tumlingen. Wie sieht modernes jüdisches Leben heute eigentlich in Deutschland aus? Eine Frage, die so am 22. September in der Schenke & mehr gestellt werden könnte. Denn der Tumlinger Bürgertreff veranstaltet das Event "Meet a Jew" – "Triff einen Juden". Zu Gast ist David Holinstat. Im Gespräch mit unserer Zeitung erzählt er etwas über sich und das Projekt.

Seit wann setzen Sie sich für das Projekt "Meet a Jew" ein und was sind das für Erfahrungen, die Sie mit dem Publikum machen?

Ich mache seit Februar 2018 mit. Ich habe schon über 40 Begegnungen hinter mir und habe fast ausschließlich positive Erfahrungen gemacht. Die meisten Teilnehmer sind interessiert, neugierig und offen.

Was sind die häufigsten Fragen, die Ihnen bei "Meet a Jew" gestellt werden?

Es kommen unter anderem Fragen zur Religion, zu koscherem Essen, zu Geboten und Verboten sowie Fragen zum Verhältnis des Judentums zu anderen Religionen, zu Homosexualität, zur Beschneidung, und so weiter. Ich werde auch immer wieder gefragt, "Was denken Juden über XY?" Und meine erste Antwort ist immer: Es sind 16 Millionen Juden auf der Welt und ich bin nur einer davon. Jeder hat seine eigene Meinung, es gibt nicht "den Juden".

Was ist Ihnen an einem "Meet-a-Jew-Abend wichtig?

Dass das Publikum offen und aktiv ist und viele Fragen stellt. Alle Fragen sind erlaubt.

Wie religiös sind Sie und welche Bedeutung haben jüdische Gebräuche und Feiertage für Sie?

Das hängt von der Definition von religiös ab. Ich bin aktiv in der Jüdischen Gemeinde für Württemberg (IRGW) und fahre öfters zum Schabbat beziehungsweise für die größeren Feiertage in die Synagoge nach Stuttgart. Ansonsten identifiziere ich mich mit dem progressiven Judentum.

Wie sieht die Jüdische Gemeinde Württemberg aus?

Der israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg gehören knapp 3000 Mitglieder an. Wir haben Synagogen in Stuttgart, Esslingen und Ulm. In der Synagoge in Stuttgart gibt es täglich einen Gottesdienst.

Was ist progressives Judentum?

Es gibt drei Richtungen in Judentum: orthodox, konservativ (Masorti) und Reform (progressiv). Das progressive Judentum sieht die Auslegung der Thora als einen dynamischen Prozess zwischen Bewahrung der Tradition und Erneuerung.

Was zum Beispiel unterscheidet Sie im progressiven Judentum von den orthodoxen Juden?

Die Gottesdienste bei Masorti und im progressiven Judentum sind egalitär, das heißt, Männer und Frauen sitzen gemeinsam und es gibt auch Rabbinerinnen.

Gibt es für die Gottesdienste in den Synagogen besondere Sicherheitsvorkehrungen?

Leider müssen die meisten Synagogen Vorkehrungen treffen. Besonders nach Halle ist das Thema Sicherheit noch wichtiger geworden und es gibt jetzt Zuschüsse für weitere Sicherheitsmaßnahmen vom Land.

Wie unterscheidet sich das jüdische Leben in Deutschland von dem in Ihrem Herkunftsland, den USA?

In Amerika ist das Judentum bekannter. Etwa zwei Prozent der Bevölkerung sind dort jüdisch. In Deutschland sind es 0,1 bis 0,2 Prozent. Wenn hier in einer Krimi-Serie beispielsweise ein Foto von einem Juden gezeigt wird, ist es das Foto eines Ultraorthodoxen. 95 Prozent der Juden in Deutschland sehen aber nicht so aus. Im amerikanischen Fernsehen wird auf andere Weise gezeigt, dass Charaktere jüdisch sind. In Deutschland wird über Antisemitismus oder Anschläge berichtet, aber das normale jüdische Leben wird sehr wenig gezeigt.

Erst im vergangenen Herbst wurde in Halle eine Synagoge angegriffen. Erleben Sie in Ihrem Alltag Antisemitismus?

Ich habe glücklicherweise nie selbst physische Gewalt erlebt. Allerdings trage ich keine Symbole, die mich als Juden erkennbar machen. Unter Bekannten und Arbeitskollegen habe ich einige wenige Male antisemitische Einstellungen beziehungsweise Aussagen mitbekommen. Ich kenne jedoch anderen Juden, die Gewalt erlebt haben und viele jüngere, die in der Schule und im Internet starken Antisemitismus erfahren.

Nimmt der Antisemitismus Ihrer Meinung nach in Deutschland zu und woran liegt das?

Es ist statistisch belegt, dass Antisemitismus in Deutschland leider immer sichtbarer wird. Ich merke dies an der Bereitschaft mancher Menschen, antisemitische Äußerung öffentlich auszusprechen, in sozialen Medien zu schreiben, oder sogar in politischen Ansprachen zu äußern. Diese Tendenz verunsichert mich sehr. Ich glaube, eine Erklärung hierfür ist der insgesamt viel rauere Ton in unserer Gesellschaft, der durch das Internet und die "sozialen Medien" befördert wird.

Was kann und sollte jeder tun, um Antisemitismus zu bekämpfen?

Erstens, bei sich selbst anfangen: eigene Einstellungen und Aussagen reflektieren. Zweitens, wenn jemand anders antisemitische Aussagenmacht oder Einstellungen bekanntgibt, klar und deutlich widersprechen. Im Übrigen gilt das für jede Form von Menschenfeindlichkeit, egal ob Rassismus, Islamophobie, Homophobie und so weiter.   Die Fragen stellte Daniel

Begemann.

David Holinstat ist 65 Jahre alt, Amerikaner, und lebt seit 1982 in Deutschland, heute in Herrenberg. Er hat viele Jahre als Ingenieur gearbeitet.

Das aktuelle jüdische Leben in Deutschland aus erster Hand kennenzulernen, das ist die Idee hinter "Meet a Jew". Unter dem Motto "Miteinander statt übereinander reden" vermittelt das Begegnungsprojekt des Zentralrats der Juden in Deutschland ehrenamtliche jüdische Jugendliche und Erwachsene an Schulen, Universitäten oder Vereine. In persönlichen Begegnungen geben die Teilnehmer individuelle Einblicke in ihren aktuellen jüdischen Alltag, einen Überblick über die Vielfalt des jüdischen Lebens in Deutschland und beantworten Fragen in ungezwungener Gesprächsatmosphäre. Im Vordergrund steht weniger die Vermittlung von Wissen, sondern der Austausch auf Augenhöhe.

Weitere Informationen: www.meetajew.de