Die Unterstellung an die Adresse der ukrainischen Flüchtlinge, sie würden Sozialtourismus betreiben, ist in dieser kritischen Phase der Republik gefährlicher denn je, meint Matthias Schiermeyer.
Wenn der Begriff „Sozialtourismus“ zum zweiten Mal nach 2013 zum Unwort des Jahres gewählt würde, dürfte sich niemand wundern. Ende September hat CDU-Chef Friedrich Merz diesen Vorwurf an die ukrainischen Geflüchteten unters Volk gestreut. Man hört seine Anhänger aufstöhnen: Müssen wir drei Wochen später noch immer über etwas reden, wofür Merz sich – mehr oder weniger – entschuldigt hat? Können Gegner und Medien nicht endlich Ruhe geben?
Ressentiments werden auf der Straße bereits aufgegriffen
An der gründlichen Aufarbeitung führt kein Weg vorbei. Erst Anfang dieser Woche haben Hunderte Demonstranten in Leipzig das Ressentiment aufgegriffen, indem sie die Flüchtlinge in Sprechchören beschuldigten, sie würden „auf unsere Kosten leben“ – ausgerechnet an dem Tag, als in der Ukraine so viele russische Bomben wie selten zuvor niedergingen. Da geht sie auf, die brandgefährliche Saat.
In der Sache stellt vor allem die dafür zuständige Bundesagentur für Arbeit klar, dass Merz völlig danebenliegt. Zwar häufen sich in letzter Zeit Fälle des Nichterscheinens in einigen Jobcentern, doch darf den Vertriebenen nicht pauschal das Erschleichen von Leistungen unterstellt werden. Es kommt jetzt auch angesichts der insgesamt stark steigenden Flüchtlingszahlen mehr denn je auf Klarheit und Wahrheit an. Wer in diesem Herbst und Winter des sozialen Protests – mit enormen Ängsten vieler vor den steigenden Preisen, einer Rezession der Wirtschaft und den denkbaren Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt – solche Gräben aufreißt und an völlig falscher Stelle Schuldige sucht, erntet womöglich eine nicht mehr zu reparierende gesellschaftliche Spaltung.