Mithilfe der Systembiologie soll vorhergesagt werden, wie man gesund bleiben kann. Foto: © sdecoret – stock.adobe.com

Krankheiten werden seltener und das Altern erträglicher – das ist die optimistische Prognose im neuen Buch "Die Vermessung des Lebens" von Peter Spork. Der Systembiologe wird am Donnerstag, 10. März, bei der Volkshochschule Calw zu Gast sein.

Calw - Systembiologie ist ein noch nicht sehr bekannter Zweig der Biowissenschaft, mit dem sich der Wissenschaftler und Autor Peter Spork im Zuge seines neuen Buches "Die Vermessung des Lebens" beschäftigt. Was es damit auf sich hat, erzählt er im Gespräch mit unserer Redaktion.

Können Sie unseren Lesern erst einmal ganz allgemein erklären: Was ist Systembiologie? Was kann sie schon heute?

Systembiologie ist der Versuch, das unerhört komplexe Geschehen des Lebens mit Hilfe der Mathematik zu beschreiben, oder, wie es der Berliner Systembiologe Nikolaus Rajewsky sagt: Es ist "Das Vermessen und Berechnen des Lebens an einem bestimmten Moment und um diesen Moment herum."

Tatsächlich erleben wir in der Medizin und Biologie gerade eine Zeitenwende, die unser aller Verständnis von Gesundheit, Krankheit und dem Altern dramatisch zum Besseren verändern wird. Schon heute gibt es künstliche Bauchspeicheldrüsen für Menschen mit Typ-1-Diabetes oder eine hochpräzise Gesundheitsbegleitung, die Einzelpersonen mit einem erhöhten Erkrankungsrisiko ganz individuell dabei hilft, gesund zu bleiben. Hochleistungssportler*innen nutzen ähnliche Techniken für die Trainingsoptimierung. Und schon bald könnten wir alle davon profitieren, etwa durch eine hochindividuelle Ernährungsberatung, die Krankheiten verhindert, bevor sie entstehen. Erste Studien zeigen, dass das funktioniert.

Wie sind Sie auf diesen Zweig der Biowissenschaften gekommen?

Ich hatte vor Jahren das weltweit erste allgemeinverständliche Buch zur Epigenetik geschrieben – einem anderen, sehr wichtigen Zweig der Biologie ("Der zweite Code", Rowohlt 2009). Das Buch ist bis heute ein großer Erfolg, und schon damals war mir klar, dass die Systembiologie der nächste wichtige Schritt auf dem Weg zu einem umfassenden Verständnis des Lebens ist. Allerdings dauerte es zehn Jahre, bis die Fortschritte so groß waren, dass sie von Interesse für die Allgemeinheit geworden sind.

Jetzt endlich beginnt die Wissenschaft in ersten Ansätzen, das Leben vorherzusagen. Die Systembiologie befindet sich damit auf einem Niveau, wie die Astronomie des 16. Jahrhunderts. Diese lernte damals, den Lauf der Planeten zu berechnen. Die Forschung konnte auf einmal die Bewegung der Himmelskörper ausmessen, wissenschaftlich erklären und in die Zukunft vorausberechnen. Das Gleiche hat die Systembiologie jetzt mit dem Leben vor. Dank der Fortschritte in der biologischen Grundlagenforschung, der Datenerfassung – von der Molekularbiologie bis zur Herzrate und hormonellen Stressreaktion – sowie der rasanten Entwicklung von Software- und Computertechnik bis hin zu neuen Methoden der Künstlichen Intelligenz (KI) wird endlich auch die Biologie berechenbar.

Warum ist Systembiologie Ihrer Meinung nach so wichtig?

Sie wird uns und der Medizin helfen, ein Leben in Gesundheit zu führen, zu dem unvermeidbare Krankheiten dazugehören und in dem vermeidbare Krankheiten möglichst gar nicht mehr entstehen. Auch das Tempo, mit dem wir altern, wird sich deutlich verlangsamen. Wir werden länger fit bleiben.

Die Medizin, wie wir sie heute kennen, wird komplett umdenken müssen. Sie wird sich zu einer wissenschaftsbasierten ganzheitlichen Gesundheitsbegleitung entwickeln, die wieder den Menschen in den Mittelpunkt stellt und nicht die Verwaltung von Daten oder das Funktionieren von Apparaten. Gemeinsam mit allen anderen Vertreter*innen der Gesundheitsberufe – von Hebammen über Physiotherapeut*innen bis zu Psycholog*innen – werden Ärzt*innen kaum noch Symptome und Krankheiten bekämpfen. Sie werden auf der Basis eines echten Verständnisses von der Entstehung der Leiden dafür sorgen, dass diese gar nicht erst auftreten.

Welche Rolle spielt Systembiologie in der Corona-Krise?

Sie erinnern sich bestimmt an die vielen Modellrechnungen, die uns geholfen haben, die Pandemie ohne eine Überlastung des Gesundheitssystems zu bewältigen. Es waren letztlich Systembiolog*innen, die diese Modelle mit komplizierten mathematischen Formeln entworfen haben, etwa die Physikerin Viola Priesemann oder der Mathematiker Michael Meyer-Hermann. Diese Modelle sollten niemals die Wirklichkeit vorhersagen, sondern vorausberechnen, wie sich die Pandemie voraussichtlich entwickelt, wenn wir bestimmte Maßnahmen ergreifen oder eben nicht. Die meisten Menschen und auch die Politik haben darauf reagiert und das hat dazu geführt, dass die schlimmsten Szenarien nicht eingetreten sind. Das Gleiche macht eine moderne Systembiologie auf der Ebene des Individuums: Der Typ-1-Diabetiker mit einer künstlichen Bauchspeicheldrüse hat ein Gerät, das Daten sammelt und vorausberechnet, wie sich der Blutzuckerspiegel entwickeln dürfte. Darauf reagiert es mit der Ausschüttung der richtigen Menge des Blutzucker senkenden Hormons Insulin. Und wenn ich in Zukunft eine App auf meinem Smartphone habe, die Informationen über meinen Körper und meine Ernährung hat und mir dann Tipps gibt, wird mir auch das helfen, gesund zu bleiben.

Wie glauben Sie, wird die Systembiologie in Zukunft unser Leben verändern?

Wir werden gesünder sein und länger leben – was nicht heißt, dass es keine Krankheiten und kein Leid mehr geben wird. Auch das Altern werden wir nicht abschaffen können. Aber wir werden es viel mehr als heute selber in der Hand haben, unsere Gesundheit selbst zu definieren und dieses Ziel ein ganzes Leben lang zu leben. Gesundheit ist nämlich ein Prozess und kein Zustand.

Wir werden unsere Gesundheitsdaten größtenteils selbst kontrollieren und mit Hilfe von Datenberater*innen – die heutigen Finanzberater*innen ähneln dürften – so verwalten, dass damit nur das geschieht, was wir uns wünschen und was uns und unserer Gesundheit zugute kommt. Was wir unter Gesundheit verstehen, sollten wir dabei selbst definieren dürfen, nicht etwa unsere Krankenkasse, die Arbeitgeber oder der Staat. Nicht jede*r möchte zum Beispiel hundert Jahre alt werden und dauerhaft auf Alkohol, Kartoffelchips oder Fleisch verzichten. Genuss gehört zur Gesundheit dazu, ist aber individuell sehr verschieden.