Forschung mit Karussellen: Tim Nowaks „The Centrifuge Brain Project“ Foto: Filmwinter

Ende 1987 erlebte der Stuttgarter Filmwinter seine Erstauflage, als „Festival for Expanded Media“ ist er heute bekannt. Unter dem Motto „Nur gute Lügen“ feiert er vom 18. Januar an sein Jubiläum. Was Besucher erwartet.

Stuttgart - Was passiert mit dem menschlichen Gehirn, wenn es extremer Zentrifugalkraft ausgesetzt wird? Äußerst nüchtern erzählt der Wissenschaftler Dr. Nick Laslowicz von einem Forschungsprojekt, das dieser Frage mit Hilfe von Jahrmarktkarussellen nachgeht. Spätestens, wenn die zu Versuchszwecken dienenden Achterbahnen und Karusselle immer extremer und verrückter werden, ahnt man, dass es hier nicht ganz mit der Wahrheit zugehen kann. Ernst vorgetragen, aber schreiend komisch, gehört Tim Nowaks „The Centrifuge Brain Project“ von 2011 zum Genre der Mockumentarys, was man grob mit Dokumentarfilm-Parodie übersetzen könnte.

Das Motto des am 18. Januar beginnenden Stuttgarter Filmwinters lautet „Mut zur Lüge“. Der Slogan mag wie eine Reaktion auf aktuelle Debatten wirken, entwickelt wurde er aber schon im Frühjahr vom Verein Wand 5, der den Filmwinter veranstaltet. „Wir wollen, dass die Lüge wieder an den Ort kommt, wo sie hingehört: In die Kunst“, konkretisiert Giovanna Thiery, Koordinatorin des Filmprogramms. „Wir machen Propaganda für die ‚gute Lüge’!“

Wie das aussehen kann, sollen zahlreiche Programmpunkte des Festivals zeigen, unter anderem die sechsteilige Filmreihe „Fokus: Mut zur Lüge!“. Oder auch die in der Expanded-Media-Ausstellung zu sehende Arbeit „Megacorp.“ des österreichischen Duos „KairUs“. Die beiden Medienkünstler haben Phishing-Websites von Fake-Firmen gesammelt und daraus einen fiktiven Großkonzern gegründet. Für Expanded-Media-Koordinator Marcus Kohlbach „eine entwaffnend gute Lüge im Sinne des Festivalmottos – die ’böse Lüge’ wird entlarvt und mit viel Witz und Ironie in gesellschaftskritische Kunst verwandelt“.

Der Trailer zum Filmwinter zeigt Ausschnitte der Festival-Filme:

Das Festival überschreitet Grenzen

Auch das diesjährige Festival-Jubiläum steht ganz im Zeichen des Mottos: Gefeiert wird der 300. Filmwinter – was sind in unserer postfaktischen Zeit schon Nullen? Die „nackte Wahrheit“ jedenfalls verspricht das Jubiläumsprogramm „The Very Very Best of“ am Abschlusstag, mit kultigen Kurzfilmen, einer Trailer-Rolle sowie Aufnahmen historischer Festival-Momente. Eine Jubiläumsperformance plus Werkschau zeigt überdies das Kollektiv „Schmelzdahin“, das schon beim allersten Filmwinter im Dezember 1987 dabei war – der übrigens in der legendären Heslacher Kneipe Casino stattfand.

Ein wenig in die Irre führt der Name „Filmwinter“ indes schon lange. Am Anfang tatsächlich noch ein reines Filmfestival mit dem Ziel, dem unabhängigen Kurz- und Experimentalfilm ein Forum zu bieten, bekam sukzessive die Medienkunst immer mehr Platz und ist mittlerweile genauso wichtig – der 1995 hinzugekommene Namenszusatz „Festival for Expanded Media“ bekräftigt dies. Der Medienkunstbereich gliedert sich in die Wettbewerbe „Medien im Raum“ und „Network Culture“ für grenzüberschreitende Formate zwischen Installation, Performance und Netzkunst. Ob Film- oder Medienkunst, in beiden Bereichen gehört der Filmwinter mittlerweile zu den wichtigsten Festivals in Deutschland.

Hauptanziehungspunkt fürs Publikum ist aber vermutlich immer noch der internationale Kurzfilmwettbewerb, für den in diesem Jahr aus rund 1600 Einreichungen 90 Arbeiten ausgewählt wurden. Zu erwarten ist dabei wie gewohnt die gesamte Spanne zwischen Experimental-, Dokumentar-, Animations- und szenischem Film.

Der Filmwinter vagabundiert durch die Stadt

Jede Menge Filmentdeckungen verspricht zudem das breite Rahmenprogramm. So präsentiert etwa Sanja Grbin vom „25 FPS Festival Zagreb“ kroatische Kurz- und Experimentalfilme der vergangenen Jahre, Manuel Francescon widmet sich der Vielfalt des Amateur-Trashfilms auf Super 8, und gemeinsam mit der ifa-Galerie entstand das Programm „Home is not a Place“ mit Kurzfilmen von, für und mit Geflüchteten. Eine weitere Kooperation: Das Haus der Geschichte zeigt im Rahmen seiner Ausstellung über Carl Laemmle Filme des schwäbisch-amerikanischen Filmproduzenten, der 1912 die Universal Studios in Hollywood gründete. Ein Höhepunkt: Die Live-Vertonung des 1927 gedrehten Stummfilms „Spuk im Schloss“/„The Cat and the Canary“ mit dem Pianisten Oliver Prechtl. Für Live-Musik etwas anderer Art, von Experimentallärm bis zu tanzbaren Beats, sorgen jeweils am Ende der Festivaltage Künstler wie Markus Popp aka Oval, Roboter Blanko oder Putte & Edgar.

Gewohnte Vielfalt offenbart bereits dieser kurze Blick ins Programm, gewohnt erscheinen mittlerweile auch schon die häufig wechselnden Veranstaltungsorte des Filmwinters. Seit dem Ende des Filmhauses vagabundiert das Festival durch die Stadt, nach zuletzt zwei Jahren im Theater Rampe und dem Kunstraum 34 läuft der Großteil der Veranstaltungen nun im Fitz Figurentheater, dem Theater tri-bühne und dem Haus der Geschichte (für das Filmprogramm) sowie im Kunstbezirk (Medienkunstausstellung). „Wir wechseln die Orte, weil es das Haus für Film und Medien erst in 600 Jahren gibt“, kommentiert Marcus Kohlbach mit trockener Ironie.